Benutzer:Enigma/Themen/Residenzpflicht/Innenausschusssitzung2010-2-22

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Im Rahmen der Vorbereitung auf die Innenausschusssitzung am 22.2. habe ich ein bisschen Material zum Thema Residenzpflicht zusammengetragen. Ich habe versucht herauszustellen, inwiefern das Thema für die Piratenpartei relevant ist, aber weder eine wissenschaftlichen Aufsatz verfasst noch hege irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit. Anmerkungen gerne per PM an mich.

Was kennzeichnet die Residenzpflicht?

  • Rechtliche Benachteiligung von Asylbewerbern und Geduldeten Personen (üblicherweise Flüchtlinge, die nicht als asylberechtigt anerkannt wurden, aber die aufgrund von humanitären oder administrativen Gründen nicht abgeschoben werden können)
  • Verpflichtende Gebundenheit an einen Aufenthaltsort (nicht nur Wohnort) – zum Beispiel einen Landkreis – Ausreisegenehmigungen werden willkürlich und widerwillig durch die Ausländerbehörde erteilt
  • Aushebelung von elementaren Rechten aufgrund des Flüchtlingsstatus

Ablauf

  • Nach Asylantrag Verteilung nach festgelegtem Schlüssel (computergesteuertes Verteilsystem)
  • jedes Bundesland hat eine zentrale Aufnahmestelle → Bearbeitung des Aufnahmeantrags und Anhörung
  • Zuweisung in einen bestimmten Landkreis
  • Bearbeitung des Asylantrags kann 6 Monate bis viele Jahre dauern (positive Anträge dauern in der Regel länger, jedoch sind lediglich 5 % positiv)

Rechtliche Hintergründe

  • Wird geregelt durch das Ausländerrecht
  • §56 Räumliche Beschränkung (1) „Die Aufenthaltsgestattung ist räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem die für die Aufnahme des Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt.“
  • §58 Verlassen eines zugewiesenen Aufenthaltsbereichs: „Die Ausländerbehörde kann einem Ausländer [...]“ erlauben, den Geltungsbereich zu verlassen. Ausnahmen werden aufgeführt
  • Seit Januar 2005 neues Zuwanderungsgesetz, wodurch jetzt ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Erlaubnis besteht, wenn die Kriterien „zwingender Grund“ und Vermeidung „unbilliger Härte“ erfüllt sind
  • §58 (6) Aufnahme per Rechtsverordnung der Landesregierungen: Das Gebiet kann erweitert werden
  • §59 Durchsetzung der räumlichen Beschränkung: Regelt die Art und Weise, wie Polizei, Grenzbehörde, Ausländerbehörde und Aufnahmeeinrichtungen die Durchsetzung durchführen sollen
  • §85 Sonstige Straftaten & §86 Bußgeldvorschriften: Regeln die Strafmaßnahmen für Zuwiderhandlungen
  • -> Verletzung der Residenzpflicht ist eine Ordnungswidrigkeit
  • Einzige Ordnungswidrigkeit in Deutschland, deren Wiederholung dazu führt, dass sie als Straftat gewertet wird
  • 1997 (Beschwerde von 1992): Urteil des BverfG, dass das Verfahren mit der Verfassung vereinbar sei (Zweckdienlichkeit und Verhältnismäßigkeit wird bescheinigt) mit Verweis auf die ansteigenden Asylbewerber-Zahlen seit Mitte der 70er
  • 2007 (Beschwerde von 2000): Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aufgrund des §2 Rechts auf Freizügigkeit der vierten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention „Jedermann, der sich rechtmäßig auf dem Hoheitsgebietes eines Staates aufhält, hat das Recht sich dort frei zu bewegen und seinen Wohnsitz frei zu wählen“
  • → Zirkelschluss mit der Begründung, dass man sich ja außerhalb des zugewiesenen Bereichs nicht rechtmäßig aufhalte

Kollision mit Rechten

  • Allgemeine Erklärung der Menschenrechte:
    • §13 „Jeder hat das Recht, sich innerhalb der Grenzen eines Staates frei zu bewegen.“
    • §27 „Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen.“
    • §20 „Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und zu Versammlungen zusammenzuschließen.“
  • Grundgesetz: §1, §2, §11 (gilt nur für Deutsche)

Besonderheiten

  • Lediglich 4 weitere Länder, die Asylbeantragenden verbieten, ihren Aufenthaltsort frei zu bestimmen
  • Antrag auf Ausreise
    • muss auf der Ausländerbehörde gestellt werden
    • muss meistens lange Zeit im Voraus beantragt werden
    • erfolgt meist unter erniedrigenden Umständen, unter Darlegung aller Details und Gründe der Reise
    • wird meistens abgelehnt
    • wird meist direkt mündlich beurteilt (bei Antrag auf schriftlicher Darlegung der Gründe öfter Genehmigung)
  • Teilweise wird schon der Besuch des Bahnhofs als Versuch einer strafbaren Handlung angesehen
  • Selbst ermittelnde Beamte (Strafanzeige nach Gespräch mit Verwandten)
  • Ablehnung von Asylanträgen von Personen, die mit der Residenzpflicht aneinandergeraten sind, mit der Begründung, dass sie offensichtlich deutsches Recht nicht nutzen wollten, obwohl dies ja für sie als Deutsche nicht zutreffen würde
  • Grundsätzliche Ablehnung von Bildungsaufenthalten (Deutschkursen etc.), da aufgrund der Ungewissheit des Aufenthalts dies als nicht notwendig angesehen wird
  • Häufige Ablehnung von religiösen Aufenthalten
  • Fast immer Ablehnung von politischen Aktivitäten (Demonstrationen sollen wegen verhindert werden, damit nicht „Nachfluchtgründe“ geschaffen werden, also die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Asylantrags steigt)
  • Weg von teilweise bis zu 40 km zur zuständigen Ausländerbehörde, um einen Antrag zu stellen, um 10 km zu fahren
  • Gebühren: Teilweise bis zu 10 Euro Gebühren, um einen Antrag zu stellen (40 Euro monatliche Auszahlung)

Begründung

  • Die willkürliche Zuweisung zu einem bestimmten Landkreis wird damit begründet, dass man die Ballung von Asylanten in den Städten verhindern will
  • Es soll sichergestellt werden, dass das Asylverfahren schnell und ohne Komplikationen durchgeführt werden kann (der Aufenthaltsort des Antragstellers soll stets bekannt sein)
  • Die Abschiebung soll unkompliziert vorgenommen werden

Tatsächlicher Grund

  • Das Asylrecht soll möglichst abschreckend wirken
  • „Im Gegensatz zu den anderen Grundrechten ist beim Asylrecht der überwiegende Teil der institutionalisierten staatlichen Phantasie und der politischen Schöpfungskraft darauf gerichtet, auf seine möglichst geringe Inanspruchnahme hinzuwirken, es durch flankierende Maßnahmen aller Art in seiner Wirksamkeit einzuschnüren, wenn nicht gar hinwegzumanipulieren, soweit es die Verfassungsrechtslage irgendwie erlaubt.“

(Wolfgang Zeidler, ehem. Vizepräsident des BverfG, im Geleitwort zur ersten Ausgabe der Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik ZAR 1981)

Wo sind die Überschneidungen mit Piraten-Kernthemen?

  • Bei strenger Auslegung des Begriffs „Bürgerrechtspartei“ würde die Residenzpflicht nicht zu den Piraten als Thema passen, da Asylsuchende grundsätzlich keine deutschen Bürger sind. Diese Semantik-Klauberei sollte jedoch in diesem Falle zurücktreten, um Grundrechte für alle Menschen zu verteidigen. Daher kann sich die Piratenpartei bei diesem Thema durchaus gefragt fühlen.
  • Menschen werden an ihrer kulturellen und individuellen Persönlichkeitsentfaltung gehindert
  • Menschen werden Bildungsaufenthalte erschwert oder verweigert – wirtschaftlich unsinnig, da bei bewilligtem Asylantrag diese Menschen dann u. U. schlechter deutsch sprechen
  • Menschen wird ihre politische Betätigung und eingeschränkt oder verboten („Politik soll sich im Landkreis abspielen“) und damit auch ihre Meinungsfreiheit
  • Menschen werden in ihrer Reise- und Bewegungsfreiheit eingeschränkt
  • Um die Einhaltung der Residenzpflicht zu gewährleisten, kommt es oft zu Kontrollen, vor allem an bestimmten Verkehrs-Knotenpunkten. Diese finden - ähnlich einer Rasterfahndung - vorwiegend bei Personen mit dunkler Hautfarbe statt. Da es allzu leicht ist, gegen die Residenzpflicht zu verstoßen, finden sich die Polizisten häufig genug in ihren Vorurteilen bestätigt. Diese Situation schürt Vorurteile bei Polizei und der dies mit ansehenden Bevölkerung und fördert Rassismus.
  • Beim Stellen von Ausnahmeanträgen müssen zahlreiche, zum Teil übertriebene Angaben gemacht werden, die in die persönliche Privatsphäre des Antragstellers und auch des Besuchten eindringen
  • Auch die Pflicht, an bestimmten Orten, oft auch in Asylantenheimen, zu wohnen, geht mit erheblichen Einschränkungen der Privatsphäre, ständigen Kontrollen und teilweise eingeschränktem Besuchsrecht im Wohnheim einher
  • (Geldauszahlung in Form von Gutscheinen beschränkt Menschen in ihrer individuellen Entfaltung)

In Kürze

Das Thema erscheint auf den ersten Blick „typisch links“, da vieles, das mit Asyl und Menschenrechten mit linken Themen verknüpft wird. Worum es hier geht ist aber in keinster Weise irgendeine utopische Heile-Welt-Phantasie. Stattdessen geht es erst einmal (nur) um die Frage, ob Menschen von denen unklar ist, ob sie in Zukunft in Deutschland leben können werden, während der Zeitdauer ihrer Ungewissheit ein menschenwürdiges Leben unter Inanspruchnahme der gleichen Menschenrechte (nicht Staatsbürgerrechte), die auch für deutsche Bürger gelten, führen dürfen oder nicht. Rechte anderer Mitmenschen werden dadurch nachweislich nicht eingeschränkt. Ich denke, die Antwort der Piraten darauf dürfte klar sein.


Zur Innenausschusssitzung am 22.2.

  • Körting (Innensenator, SPD) hat in den Koalitionsvertrag schreiben lassen, dass er die Bedingungen verbessern will
  • Die SPD+Links hat nun einen Antrag, dass die Bedingungen in Kooperation mit der Brandenburgischen Regierung verbessert werden sollen
  • Grüne und SPD+Links haben des Weiteren Anträge zum Resettlement


Links und Quellen


Fazit der Sitzung durch die HU

(aus ihrem Newsletter vom 24.2.)
Residenzpflicht: Berliner Innensenator schiebt Verantwortung ab

"Nachdem sich die Landesregierungen von Berlin und Brandenburg in den vergangenen Wochen nicht mehr zur angekündigten Ausweitung der Bewegungsfreiheit für Flüchtlinge auf das gemeinsame Gebiet der beiden Bundesländer geäußert hatten, fand nun an diesem Montag eine Anhörung des Berliner Innenausausschusses zur Residenzpflicht statt. Die auf dieser Sitzung mit Spannung erwartete Stellungnahme des Berliner Innensenators Körting hat aber viele Hoffnungen enttäuscht. Die Zweifel Körtings an der Machbarkeit dieser Ausweitung durch ein Verwaltungsabkommen zwischen den Ländern Berlin und Brandenburg überwogen deutlich. Die juristischen Ausführungen des zuvor angehörten Rechtsanwaltes Stahmann wiegelte er als Wunschgedanken ab und berief sich auf rechliche Bedenken des Bundesinnenministeriums. Welche Bedenken dies sind, wollte er aber trotz Nachfrage nicht verraten. So bleibt der Eindruck, dass hier juristische Argumente vorgeschoben werden, um die Verantwortung für die menschenunwüdigen Regelungen abzuschieben. Bis zum 31. März hat die rot-rote Regierung Körting Zeit gegeben die rechliche Lage umfassend zu prüfen."

Fazit durch den Flüchtlingsrat Hamburg (inkl. Presseschau)

Liebe KollegInnen,
das Presseecho zur heutigen Anhörung im Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses zur Residenzpflicht ist so zwiespältig, wie es auch die Äußerungen des Berliner Innensenators waren. Körting sprach sich zwar tendenziell für Verhandlungen über die Aufhebung der Residenzpflicht zwischen beiden Bundesländern aus und stellte auch eine Bundesratsinitiative zur Änderung des AufenthG und des AsylVfG in Aussicht. Er sprach aber auch von großen rechtlichen Unsicherheiten, die jetzt erstmal geprüft werden müssten, und berief sich auf angebliche Bedenken des Bundesinnenministeriums. Es scheint nötig, weiter Druck auf die Berliner und die Brandenburger Landesregierung zu machen. Unsere Pressemitteilung zum Ergebnis der heutigen Anhörung: http://www.fluechtlingsrat-berlin.de/print_neue_meldungen.php?sid=472 Der TOP Resettlement - Aufnahme von Flüchtlingen in Berlin - wurde vertagt und wird vsl. am 08.03.2010 im Innenausschuss behandelt.

Anbei:
Presse, Stellungnahmen, mögliche Handlungschritte zur Aufhebung der Residenzpflcht

Georg Classen www.fluechtlingsrat-berlin.de

Das Presseecho von morgen:

Berliner Zeitung 23.02.2010
Im großen Bogen um die Stadt - Innensenator Körting will Flüchtlingen in  Brandenburg den Aufenthalt in Berlin künftig erleichtern
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/berlin/156574/156575.php
Tagesspiegel 23.03.2010
Asylbewerber warten weiter auf Freizügigkeit
http://www.tagesspiegel.de/berlin/art270,3038743
Neues Deutschland 23.03.2010
Residenzpflicht wird geprüft
http://www.neues-deutschland.de/artikel/165705.residenzpflicht-wird-geprueft.html
TAZ 23.02.2010
Keine Reisefreiheit für Flüchtlinge
http://www.taz.de/1/berlin/artikel/1/keine-reisefreiheit-fuer-fluechtlinge/
Die Positionen der "ExpertInnen" zur heutigen Anhörung heut: 
Beate Selders, Tischvorlage zur Anhörung am 22.02.2009 (3 Seiten)
http://www.residenzpflicht.info/report-inhalt/Stellungnahme_Beate_Selders.pdf
Beate Selders, Dokumentation "Keine Bewegung - Die Residenzpflicht für

Flüchtlinge", als Broschüre, pdf oder html

http://www.residenzpflicht.info/bestellen/
Rechtsanwalt Rolf Stahmann, Rechtsgutachten "Welche rechtlichen
Möglichkeiten gibt es für die Verwaltung, den Bereich asyl- und

aufenthaltsrechtlicher räumlicher Beschränkungen generell zu erweitern?" (40 Seiten)

http://www.residenzpflicht.info/wp-content/uploads/2009/11/Stahmann_-_Residenzpflicht-Gutachten.pdf
Georg Classen, Flüchtlingsrat Berlin, Tischvorlage zur Anhörung am,

22.02.2009 (13 Seiten)

http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/Classen_Residenzpflicht_Berlin_220210.pdf

Infoseite zur Residenzpflicht

Infos, Termine, Fälle, Aktionen, Rechtshilfe, Material, Presse:
http://www.residenzpflicht.info/
Bericht zur Anhörung heute
http://www.residenzpflicht.info/news/anhorung-zur-residenzpflicht-im-berliner-abgeordnetenhaus/
Am 26.02.2010 Gerichtsverhandlung in Halle über Gebühren für

»Urlaubsscheine«

http://www.residenzpflicht.info/prozesse/solidaritat-mit-komi-e/

Mögliche Schritte zur Erweiterung der Residenzpflicht auf Berlin und Brandenburg, vgl. Stellungnahme Flüchtlingsrat Berlin S. 12/13:

http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/Classen_Residenzpflicht_Berlin_220210.pdf
  • Berlin und Brandenburg sollten für Asylsuchende gemäß § 58 Abs. 6

AsylVfG eine Erweiterung der Bewegungsfreiheit auf ganz Brandenburg und Berlin vornehmen. Zu prüfen ist, ob dies in Ausübung des Ermessens nach § 12 Abs. 5 Satz 1 AufenthG auch für Geduldete in Betracht kommt.

  • Brandenburg sollte als Sofortmaßnahme die Bewegungsfreiheit für

Geduldete und Asylsuchende auf das ganze Land ausweiten.

  • Berlin und Brandenburg sollten als Sofortmaßnahme die Erteilung von

Verlassenserlaubnissen so großzügig wie nur möglich gestalten. Die Verlassenserlaubnisse sollten anlässlich des regulären Vorsprachetermins erteilt und an die Geltungsdauer der Aufenthaltstitels angepasst werden werden. Auf die Privatsphäre berührende nähere Nachforschungen zum Anlass der Reise sollte verzichtet werden.

  • Berlin und Brandenburg sollten die Möglichkeit umfassend nutzen, für

Geduldete gemäß § 61 Abs. 1 S. 3 AufenthG nach 12 bzw. 48 Monaten auf die Residenzpflicht ganz zu verzichten.

  • Berlin und Brandenburg sollten eine Bundesratsinitiative zur Aufhebung

der Residenzpflicht im AsylVfG und AufenthG sowie der Wohnsitzauflagen in der VwV AufenthG einbringen.

  • Sinnvoll wären ergänzend hierzu Initiativen zur Aufhebung der

Lagerpflicht, des Arbeitsverbotes, der bundesweiten Umverteilung sowie des Asylbewerberleistungsgesetzes.