Benutzer:TurBor/Berichte/Offenbach

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Allgemeines

Am 3. und 4. Dezember 2011 fand der 9. Bundesparteitag der Piratenpartei in Offenbach am Main statt, bei dem ich (wie üblich) mit einem Stapel Anträge und einem Dauerstehplatz am Mikro dabei war. Nachdem ich die Geschehnisse des Parteitags verdaut und für mich aufgearbeitet habe möchte ich ein Fazit sowohl zum Ablauf als auch zu den einzelnen Anträgen formulieren.

Orga

Angesichts des enormen Mitgliederzuwachses und entsprechend gestiegener Teilnehmerzahl nach der Berlin-Wahl (die kurzfristig aufgefangen werden musste, da die Planung für den Parteitag noch vor der Wahl anfing) war eigentlich totales Chaos vorprogrammiert. Umso mehr gebührt dem Orga-Team Dank und Anerkennung, da der Parteitag sehr geordnet ablief (relativ; ein gewisses Chaospegel gehört zu jedem Piratenparteitag nunmal dazu:) Die Einschätzung von Chemnitz, dass ein zweitägiger Programmparteitag etwa 80 Anträge abarbeiten kann, hat sich bestätigt, was bei der Teilnehmerzahl eigentlich eine große positive Überraschung ist. Optimierungsbedarf gibt es sicherlich bei der Antragsvorbereitung und der Ermittlung der Antragsreihenfolge, aber auch in diesem Bereich kommen wir gut voran. Große Diskussionen darüber, ob wir nicht doch eine strengere GO bräuchten, wird es hingegen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geben.

Anträge: Einzelkritik

  • Der Antrag mit dem höchstem Shitstormpotential ist zweifelsohne PA284 zum bedingungslosen Grundeinkommen und Mindestlohn. Ich bin sehr unglücklich, dass er angenommen wurde (auch noch mit einer denkbar knappen 2/3-Mehrheit, was natürlich die Emotionen weiter hochkochen lässt), da die dadurch ausgelösten innerparteilichen Konflikte und Grabenkämpfe in keinem Verhältnis zum eigentlichen Inhalt des Antrags stehen. Bis auf einen so allgemein wie es nur geht gehaltenen Satz steht im Antrag nämlich nichts konkretes über ein bedingungsloses Grundeinkommen, dafür werden eine Bundestags-Enquete-Kommission, eine Volksabstimmung (und ganz nebenbei auch noch ein Mindestlohn) munter in einen Topf geworfen, was den Beschluss weitgehend frei interpretierbar macht. Besonders ärgerlich dabei ist, dass die Positionspapiere "Sofortmaßnahmen zur Humanisierung von SGBII und SGBXII" und "Datenschutzfreundliche Regelungen für Empfänger von Sozialleistungen" sowie der Wahlprogrammpunkt "Abschaffung der Sanktionen bei Hartz IV" allesamt klare Mehrheiten fanden und inhaltlich genau die Forderungen an das Sozialsystem stellen, die auch hinter dem BGE-Gedanken stehen; ohne PA284 wären wir somit bei ziemlich genau denselben Positionen angelangt, hätten uns aber eine Menge Ärger und Gezanke erspart, die alleine durch die Wortwahl "bedingungsloses Grundeinkommen" ins Leben gerufen wurden.
  • Die abgelehnten Anträge zur Begrenzung von Managergehältern sind weniger wegen ihrem Inhalt, sondern vielmehr wegen dem vorherrschenden Ton in der Debatte interessant: der zeigt nämlich deutlich, dass Piraten mehrheitlich sehr weit weit von einer sozialistischen Einstellung entfernt sind. Der marxistische "Funke" hat es ganz gut zusammengefasst und die Piraten deswegen angegriffen, was ich natürlich als Kompliment für uns sehe. Die Angst, wir würden die LINKE links überholen, die besonders in Verbindung zum BGE-Beschluss aufkam, sehe ich als nicht wirklich gerechtfertigt an, was mich sehr beruhigt. Ähnliches trifft auch auf den angenommenen Antrag zur Abschaffung der Zwangsmitgliedschaft in Kammern und Verbänden zu.
  • So seltsam es klingen mag, ist der Antrag zur Begrenzung der Leiharbeit wohl derjenige von den angenommenen Anträgen, mit dem ich die meisten Probleme habe. Während die jetzige Ausgestaltung der Leiharbeit mit Sicherheit stark verbesserungswürdig ist, gehen die angenommenen Forderungen zu sehr in die Richtung, die bestehende - und aus gutem Grund immer weiter erodierende - Arbeitsmarktstruktur aufrechtzuerhalten. Sie zeichnet sich durch eine strikte Trennung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, einen hohen Stellenwert von Gewerkschaften und eine langfristige Bindung von Arbeitnehmer und Betrieb aus und ist auf die Dauer weder haltbar noch wünschenswert, wie ich beispielweise in meiner Präsentation Datei:Sozicamp-TurBor.odp dargelegt habe. Da ich selber aber für den BPT nichts zu diesem Thema vorbereitet habe sehe ich das Abstimmungsergebnis in erster Linie als Auftrag, meine eigenen Ideen in Antragsform bei den nächsten Parteitagen einzubringen.
  • Der Parteitag hat sich für den Antrag "Für die Trennung von Staat und Religion" ausgesprochen; der angenommene Antrag ist - im Gegensatz zu einigen der Alternativen - sehr ausgewogen, lediglich die explizite Erwähnung "traditioneller christlicher Kirchen" als Kritikobjekt finde ich unnötig (wenn wir schon religiöse Neutralität fordern, sollten wir diese in unseren eigenen Anträgen auch einhalten).
  • Die beiden drogenpolitischen Anträge 023 und 299 wurden erwartungsgemäß mit großer Mehrheit angenommen - die Diskussion beschäftigte sich in erster Linie damit, welchen von den beiden wir nun nehmen sollten. Jetzt haben wir beide Beschlüsse im Programm stehen, ich hoffe, dass die jeweiligen Antragsteller sich zusammensetzen und einen schlüssigen gemeinsamen Text daraus machen.
    Sowohl beim Drogen- als auch beim Religionsbeschluss scheint die Angst vor einem Shitstorm größer gewesen zu sein als die wirklichen Folgen.
  • Der Piratenappell pro Europa wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen. Im Vorfeld habe ich mich dagegen ausgesprochen und meinen Antrag "Grundgesetzkonforme Gestaltung internationaler Zusammenarbeit" als verdeckten Konkurrenzantrag dazu eingereicht, ein sehr produktives Gespräch mit dem Antragsteller auf dem BPT führte aber dazu, dass ich mich mit dem Piratenappell anfreunden konnte. Der Knackpunkt ist dabei, dass wir uns mit dem Beschluss weder für die EU in ihrer heutigen Form noch für einen gemeinsamen europäischen Staat aussprechen (was aus der Formulierung eventuell entnommen werden kann), sondern lediglich für eine Debatte über mögliche demokratische Strukturen in Europa.
  • Dass wir anstatt einer klaren Ablehnung des ESM-Vertrags lediglich "die demokratischen Defizite bei der Entstehung" kritisieren, finde ich unglücklich und sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass der Antragsteller des Originalantrags nicht anwesend war und so den Antrag nicht ausführlich vorstellen konnte. Dennoch gibt uns der Beschluss zumindest ansatzweise Spielraum für tagespolitische Aussagen, schließlich kann ein Vertrag, der undemokratisch zusammengekommen ist, auch selbst durchaus kritisiert werden.
  • Der Parteitag hat erfreulicherweise Pragmatismus bewiesen und die Anträge zu Firmenspenden abgelehnt, die jegliche vernünftige Finanzierung über Fundraising verhindert hätten. Gut so!:)
  • Der Antrag "Migration bereichert die Gesellschaft" für das Grundsatzprogramm wurde angenommen; eigentlich lässt er mich ziemlich kalt, ein gewisses Schmunzeln ruft aber die Tatsache hervor, dass explizit die Notwendigkeit wirtschaftlicher Migration hervorgehoben wird - der eine oder andere Linke mag das übersehen haben, gilt doch die "Bewertung von Menschen nach ihrem wirtschaftlichen Nutzen" in diesen Kreisen als neolibertales Teufelszeug;)
  • Nach langer Aussprache und einer geheimen Abstimmung erreichten die Satzungsänderungsanträge 063 und 064, die eine Ablehnung von nationalsozialistischem Gedankengut und Holocaustleugnung in die Satzung schreiben wollten, nicht nur keine 2/3-Mehrheit, sondern lagen knapp über (063) bzw. unter (064) der 50%-Marke. Dass die Anträge nicht angenommen wurden finde ich gut, da die jetzige Formulierung in der Satzung eindeutig genug ist und weitergehende inhaltliche Positionierung im Programm stattzufinden hat (und durch die Annahme des Antrags "Gemeinsam gegen Rassismus" ebenfalls eindeutig ausfiel). Viel wichtiger finde ich aber, dass das Ergebnis deutlich die Wichtigkeit geheimer Abstimmungen zeigt - ich bin mir sicher, dass bei all den herumschwirrenden Anfeindungen und Beleidigungen gegenüber den Antragsgegnern sich viele Piraten nicht getraut hätten, offen dagegen zu stimmen.
  • Leider wurde mein Antrag "Freie Gewissensentscheidung von Piratenabgeordneten" aus mir schlecht verständlichen Gründen nicht behandelt; dass es dringend notwendig gewesen wäre, Parteitagsbeschlüssen und Programmaussagen den Nimbus der Wahrheit in letzter Instanz zu nehmen, zeigen die anhaltenden Debatten rund um das BGE. Ich werde den Antrag erneut auf Landes- und Bundesebene stellen und würde mich über eine Auseinandersetzung mit dem Antrag und der Begründung dazu freuen.
  • Erfreulich ist für mich auch, dass alle Anträge zum "Allgemeinem piratigen Menschenbild" abgelehnt wurden, da sie eine Mischung aus inhaltslosen Floskeln, philosophischem Gelabere und Hirnrissigkeit darstellen und in einem Parteiprogramm allesamt nichts zu suchen haben.

Fazit

Bei diesem Parteitag haben wir - ich benutze mal eine altgediente Floskel, aber in diesem Fall trifft sie zu - klar unser progressiv-liberales Profil gestärkt. Bis auf ein Paar Beschlüsse (allesamt nicht weltbewegend) bin ich mit dem inhaltlichen Ergebnis des Parteitags zufrieden. Von der Programmstruktur her müssen wir uns allerdings Gedanken machen, wie wir rechtzeitig ein ordentliches Wahlprogramm auf die Beine bekommen, denn Ewigkeiten haben wir dafür nicht mehr.

P.S.

Ein Piratenparteitag ist immer wieder einfach ein geiles Erlebnis. Ich habe mich gefreut, viele Piraten wiederzusehen und viele weitere erstmals offline kennenzulernen, es gab eine Menge interessanter Gespräche und auch die Atmosphäre war großartig (wenn auch etwas ermüdend für jemanden, der einen guten Schlagabtausch nicht so sehr schätzt wie ich es tue:)