Positionspapiere/Sofortmaßnahmen zur Humanisierung des SGB II und XII

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Einleitung

Nach Artikel 1 des Grundgesetzes ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Die derzeitige SGB-II-Gesetzgebung („Hartz IV“) sowie das Sozialhilferecht (SGB XII) verstoßen unserer Auffassung nach in mehreren Punkten in nicht hinnehmbarer Weise gegen den in den Grundrechten niedergelegten Verfassungsauftrag. Die Piratenpartei Deutschland fordert daher folgende Sofortmaßnahmen zur Humanisierung des SGB II:

Höhe des Regelsatzes

Die sozialen Sicherungssysteme sollen Armut verhindern und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Daher müssen sie stets sicherstellen, dass allen Bezugsberechtigten mindestens ein Einkommen in Höhe der Armutsrisikogrenze zur Verfügung steht. Diese Schwelle lag nach Definition der EU (60% des Netto-Äquivalenzeinkommens) im Jahr 2010 für Alleinstehende bei 826 Euro.

Der Regelsatz liegt derzeit (2010) bei 364 Euro. Im Jahr 2008 betrug der durchschnittlich hinzukommenden Bedarf für Unterkunft und Heizung für Alleinstehende im unteren Einkommensbereich nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 345 Euro. Dies ergibt zusammen lediglich 709 Euro. Ein Bezieher von Sozialleistungen befindet sich daher im Normalfall mit seinem Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze. Dies ist nicht hinnehmbar.

Der Regelsatz ist daher für alle bezugsberechtigten Personengruppen so festzulegen, dass er zusammen mit den durchschnittlich erstattungsfähigen Kosten für Unterkunft und Heizung mindestens die Höhe der Armutsrisikogrenze erreicht.

Statt einer Bemessung anhand der relativen Armutsgrenze wird derzeit für die Berechnung des Regelbedarfs jedoch auf die Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) zurückgegriffen. Dabei werden seit 2010 lediglich die unteren 15% (Alleinstehende) bzw. 20% (Familien) der nach ihrem Einkommen geschichteten Haushalte als Referenz herangezogen, wobei Bezieher von Sozialleistungen in der Stichprobe unberücksichtigt bleiben. Der so ermittelte Regelbedarf wird dann durch politisch bestimmte Abzüge (z. B. für Alkohol, Tabak, Blumen, Telekommunikations- und Mobilitätsausgaben) um etwa 150 Euro vermindert.

Wenn der Regelsatzes schon auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe errechnet werden soll, so müssen für die Berechnung bei allen Personengruppen zumindest die unteren 20% der Referenzhaushalte herangezogen werden, so wie das vor 2010 der Fall war. Dabei müssen aus der Vergleichsgruppe nicht nur wie bisher Bezieher von Sozialleistungen vorab herausgenommen werden, sondern auch die sogenannten „verdeckt Armen“, also Haushalte mit einem Einkommen unterhalb des Sozialleistungs-Niveaus.

Die Piratenpartei lehnt weiterhin Abschläge bei der Regelsatzberechnung strikt ab. Politisch bestimmte Abzüge vom Regelbedarf ersetzen die Freiheit des Einzelnen, über die Verwendung seiner Geldmittel selbst zu entscheiden, durch staatliche Bevormundung. Es ist nicht hinnehmbar, dass der Staat für seine Bürger bestimmen will, welche Ausgaben sie sich leisten dürfen und welche nicht - bloß weil sie unterhalb der Armutsgrenze leben und auf gesellschaftliche Solidarität angewiesen sind. Auch Alkohol, Tabak, Blumen, Telekommunikation und Mobilität gehören in freier Entscheidung des Individuums zu einem menschenwürdigen Leben.

Die Paragraphen § 20 SGB II („Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts”), § 28 SGB XII („Ermittlung der Regelbedarfe“) sowie das „Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz)“ sind dementsprechend zu ändern.

Sanktionen

Das Bundesverfassungsgericht hat am 9. Februar 2010 entschieden, dass der Anspruch auf Sozialleistungen so ausgestaltet sein muss, „dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt“. Dazu gehört nicht nur das physische Existenzminimum, sondern „auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.“ (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Absatz-Nr. 135 und 137)

Dieser Bedarf wird nach Ansicht des Gesetzgebers mit der Regelleistung gedeckt. Dennoch sind in Kapitel 3 des SGB II und des SGB XII jeweils „Sanktionen“, also Kürzungen von Sozialleistungen zum Zweck der Maßregelung von Leistungsempfängern vorgesehen. Dies ist aus unserer Sicht mit dem grundgesetzlichen Recht zur Achtung der Menschenwürde in Artikel 1 und dem Verbot von Zwangsarbeit in Artikel 12 des Grundgesetzes unvereinbar.

Daher sind Sanktionen nach SGB II Kapitel 3 Abschnitt 2 Unterabschnitt 5 (§31 - 32) sowie nach SGB XII Kapitel 3 Abschnitt 6 (§39a) abzuschaffen.

Analog müssen auch §42a Absatz 2 SGB II und §37 Absatz 4 SGB XII überarbeitet werden, die eine Kürzung des Regelbedarfes aufgrund eines zuvor gewährten Darlehens vorsehen.

Zuverdienstmöglichkeiten

Wer heute Leistungen nach dem SGB II bezieht und dazuverdient, behält von seinem Zuverdient kaum etwas in seinem Geldbeutel. Nach dem Ausschöpfen der Grundfreibeträge findet statt dessen ein Transferentzug zwischen 80 und 90% statt. Das bedeutet besipielsweise, dass Menschen, die für 9 Euro Stundenlohn arbeiten, effektive Stundenlöhne zwischen 90 Cent und 1,80 Euro verdienen. Im Extremfall führt dies in manchen Branchen dazu, dass Menschen, die einer regulären Erwerbsarbeit nachgehen, einen geringeren effektiven Stundenlohn erzielen als in einer sogenannten „Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung“ („Ein-Euro-Job“).

Das beschädigt die Motivation der Menschen, die sich durch Arbeitsaufnahme aus dem ALG-II-Bezug herausarbeiten wollen, in großem Maße.

Die in den Paragraphen 11, 11a und 11b SGB II geregelten Vorschriften zum zu berücksichtigenden Einkommen und zu den Absetzbeträgen sind zudem kompliziert und schwer verständlich. Auch aus diesem Grund ist eine Reform dieser Bestimmungen nötig.

Wer einer Erwerbsarbeit nachgeht, soll dafür in jedem Fall auch finanziell klar belohnt werden. Daher ist sicherzustellen, dass von jedem hinzuverdienten Euro mindestens 30% beim Sozialleistungsbezieher bleiben.

Bedarfsgemeinschaften / Fürsorgepflicht

Bei der Berechnung von Ansprüchen nach dem SGB II werden Menschen, die zusammenleben und füreinander einstehen, zu sogenannten „Bedarfsgemeinschaften“ zusammengefasst. Benötigt nur ein Partner einer solchen Bedarfsgemeinschaft staatliche Unterstützung, so haben zuerst die anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft für ihn zu sorgen, bevor ein gesetzlicher Anspruch auf Hilfe entsteht.

Hierbei unterstellt der Gesetzgeber im ALG-II-Recht regelmäßig dann eine Bedarfsgemeinschaft, sobald zwei oder mehr Menschen länger als ein Jahr eine gemeinsame Wohnung bewohnen. Im Sozialhilferecht gilt diese Vermutung sogar ohne die Ein-Jahres-Frist des SGB II sofort. Sehen die Betroffenen dies anders, so überprüfen die Behörden diese Angaben regelmäßig durch häusliche Kontrollen in der Wohnung des Antragstellers. Dabei versuchen sie, anhand von Indizien innerhalb der Wohnung auf die persönliche Lebensführung der Bewohner zu schließen und hierdurch aus amtlicher Sicht festzustellen, ob eine Einstehensgemeinschaft vorliegt oder nicht. Im Rahmen von solchen sinnlosen häuslichen Kontrollen wird das Grundrecht auf Unverletzlichkeit regelmäßig in grober Weise unangemessen eingeschränkt.

Menschen, die im selben Bett schlafen, haben nicht automatisch den Wunsch, einander finanziell beizustehen. Andersherum können Menschen, die in getrennten Wohnungen wohnen, sehr wohl dazu bereit sein, sich in Notlagen gegenseitig zu unterstützen.

Die Piratenpartei achtet in besonderer Weise das Prinzip der freien Selbstbestimmung über Angelegenheiten des persönlichen Lebens. In diesem Sinne bekennen wir uns konsequent zum Pluralismus des Zusammenlebens. Politik muss der Vielfalt der Lebensstile gerecht werden und eine wirklich freie Entscheidung für die individuell gewünschte Form des Zusammenlebens ermöglichen.

Füreinander einzustehen ist eine persönliche Entscheidung, die in vielfältiger Weise gestaltet sein kann und sich jederzeit ändern kann. Wir vertrauen darauf, dass Menschen, die keinen Bedarf an Sozialleistungen haben, diese auch nicht beanspruchen. Es ist daher davon auszugehen, dass ein Antragsteller, der Sozialleitungen beantragt, diese auch benötigt, und dass eine Bedarfsgemeinschaft nur dann vorliegt, wenn Antragsteller sich demgemäß erklären.

Insofern ist ausgehend von §7 SGB II und §39 SGB XII das gesamte Sozialgesetzbuch entsprechend zu überarbeiten. Auf Kontrollen zur Überprüfung von Bedarfsgemeinschaften ist vollständig zu verzichten.

Feststellung der Erwerbsfähigkeit

Die Entscheidung, ob ein ALG-II-Antragsteller als erwerbsfähig eingestuft wird, trifft derzeit die Agentur für Arbeit. In § 44a SGB II wird den von dieser Entscheidung betroffenen Sozialleistungsträgern und Krankenkassen ein Widerspruchsrecht eingeräumt, das den grundsätzlichen Anspruch auf ALG II vorläufig bestehen lässt und gleichzeitig zu einem Gutachterverfahren beim zuständigen Rentenversicherungsträger führt. Dem Betroffenen selbst wird dieses erweiterte Widerspruchsrecht allerdings nicht gewährt.

In der Praxis führt dies dazu, dass Antragsteller, die von der Agentur für Arbeit als erwerbsunfähig eingestuft werden, erst einen weiteren Antrag auf Sozialhilfe oder Krankenversicherungsleistungen stellen müssen, woraufhin der Sozialleistungsträger oder die Krankenkasse den Widerspruch einlegen und den Antragsteller so an die Agentur für Arbeit zurückverweisen können.

Dieses umständliche Verfahren ließe sich auf Wunsch des Betroffenen abkürzen, wenn ihm das Widerspruchsrecht nach § 44a Satz 2 auch selbst zusteht. Weiterhin könnten im gegenteiligen Fall Betroffene auch dann selbst ein Gutachten einleiten, wenn sich die zuständigen Sozialleistungsträger über eine bestehende Erwerbsunfähigkeit einig sind, der Betroffene aber als erwerbsfähig eingestuft werden möchte. Ohne dieses Recht stünde dem Betroffenen sonst in diesem Fall nur das reguläre Widerspruchsrecht und ggf. der langwierige Gang über die Gerichte offen.

Wir fordern daher, in § 44a SGB II gegen die Entscheidung der Agentur für Arbeit auch dem Arbeitssuchenden selbst ein Widerspruchsrecht nach Satz 2 des Paragraphen einzuräumen.

Verbot von Zeitverträgen für Angestellte der ARGEn

Oft werden Mitarbeiter in den Jobcentern nur zeitlich befristet eingestellt. Angeblich sollen hierüber saisonale Schwankungen ausgeglichen werden. Allerdings gibt es in weitaus größerem Maße zeitlich befristete Arbeitsverträge, als es die hierfür gegebene Begründung rechtfertigt. Zudem könnte ein saisonal verringerter Bedarf an Mitarbeitern, der durch eine Abnahme der Arbeitslosigkeit erzeugt wird, falls nötig auch durch betriebsbedingte Kündigungen von fest angestellten Mitarbeitern beantwortet werden.

Das Übermaß an befristeten Anstellungen in den Jobcentern führt zum einen dazu, dass in der Belegschaft eine stärkere Fluktuation herrscht als nötig, und hierunter die Qualität der Beratung und Vermittlung leidet. Zum anderen sind Mitarbeiter, die um die Verlängerung ihres Vertrags bangen müssen, leichter dazu zu bringen, auch unangemessene Vorgaben ihrer Vorgesetzten im Umgang mit den ihnen anvertrauten Leistungsbeziehern umzusetzen.

Wir lehnen es ab, dass Mitarbeiter in Jobcenter durch befristete Arbeitsverträge unter Druck gesetzt werden. Die Piratenpartei setzt sich daher für ein Verbot von zeitlich befristeten Arbeitsverträgen für Mitarbeiter der Jobcenter ein.