Benutzer:Michael Ebner/Strategie

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Zur Strategie der Piratenpartei auf Bundesebene

Version 1.0

Anmerkungen dazu gerne auf der Diskussionsseite.

Wo stehen wir?

In der Politik besteht immer auch die Option, sich die eigene Lage schönzureden - es ist fast schon eine Garantie dafür, dass sich die eigene Lage nicht bessert. So halte ich wenig davon, darauf zu verweisen, dass sich das Europawahlergebnis 2014 im Vergleich zu 2009 erfreulich nach oben entwickelt hat. Wahlergebnisse sind stets mit dem Anspruch und den Möglichkeiten zu vergleichen:

  • Nach unserem eigenen Anspruch sind wir eine Parlamentspartei und keine außerparlamentarische Kraft. Da für die Bundestagswahl und die Landtagswahlen eine 5%-Hürde derzeit Realität ist, hat es Anspruch der Piratenpartei zu sein, bei jeder Wahl 5%+x zu holen.
  • Diesem Anspruch sind wir bei vier Landtagswahlen gerecht geworden. Ab Mitte 2012 sind wir in Umfragen und danach bei Wahlen ziemlich abgestürzt - auf die Ursachen gehe ich später noch ein.
  • Ein Mandat im europäischen Parlament ist natürlich besser als kein Mandat dort. Dennoch ist das Ergebnis der Europawahl als klare Niederlage zu sehen: Nach aller Erfahrung schneiden kleine Parteien bei der Europawahl besser ab als bei der Bundestagswahl (da die Wähler bei der als eher unwichtig empfundenen Europawahl eher bereit sind, auch mal einer kleinen Partei ihre Stimme zu geben), meine alte Daumenregel aus ÖDP-Zeiten ist Bundestagswahl + 50%, diesmal sind die Steigerungen durch den Wegfall einer Sperrklausel noch höher (ÖDP 0,3 -> 0,6, Tierschutz 0,3 -> 1,2, Familienpartei 0,0 -> 0,7, die PARTEI 0,2 -> 0,6). Die Piratenpartei hätte von einem Bundestagswaglergebnis von 2,2 locker über 3% und mindestens drei Mandate holen können und müssen - und das wäre kein "Anknüpfen an alte Erfolge" gewesen, sondern eher "Pflichtprogramm für eine 2%-Netzpartei". Schon daran gemessen ist das Europawahlergebnis ein Desaster.
  • Dieses Desaster kann erklärt werden: Es ist eine alte Regel im politischen Geschäft, dass Parteien dann bei Wahlen erfolgreich sind, wenn sie geschlossen auftreten. Dies taten wir nicht. Erste parteiinterne Auseinandersetzungen seit der Bundestagswahl (die Presseerklärung zu den Hamburger Demos, die Flaggen von Bochum) sind von der Öffentlichkeit quasi gar nicht beachtet worden, die Ereignisse vor der russischen Botschaft und in Dresden hätten auch so weit deeskaliert werden können, dass sie quasi keinen Schaden angerichtet hätten. Eine Kombination aus einem (freundlich formuliert) ungeschickt agierendem Bundesvorstand und Teilen der Basis, die - ob berechtigt oder nicht - den Eindruck hatten, dass gerade die Ausrichtung der Partei massiv verschoben werden soll, haben die Lage massiv eskaliert, und zwar so weit, dass dies auch von den Wählenden bemerkt wurde (die dann halt eine andere Partei gewählt haben).

Wohin wollen wir?

Möchte sich die Piratenpartei nicht darauf beschränken, ein besseres Abschneiden als zur Europawahl 2009 zu feiern, sondern einen politischen Gestaltungsanspruch aufrecht erhalten, dann ist der Einzug in Landesparlamente und den Bundestag das Pflichtprogramm und eine Regierungsbeteiligung (in welcher konkreten Form auch immer) die Kür.

Wahlergebnis und Mathematik

Das Ergebnis einer Partei in einer bestimmten Wählergruppe als Anzahl der absoluten Stimmen ist das Produkt aus der Größe dieser Wählergruppe mal dem Anteil derjeningen Wahlberechtigten in dieser Gruppe, der diese Partei wählt. Die Summe über die Wählerstimmen aus allen Wählergruppen ist dann das Gesamtergebnis.

Es gibt nun grundsätzlich zwei strategische Ansätze:

  • Ausrichtung der Programmatik auf ein ganz bestimmte Wählergruppe und versuchen, dort einen möglichst hohen Anteil der Walberechtigten zu überzeugen (selektiver Ansatz).
  • Ausrichtung der Programmatik auf möglichst viele Wählergruppen unter Inkaufnahme, dass dort jeweils nicht so viele Wahlberechtigte überzeugt werden (integrativer Ansatz).

Der selektive Ansatz hat den Vorteil einer hohen Kohärenz der politischen Ansichten der Partei und ihrer Wählenden. Er setzt jedoch voraus, dass die anvisierte Wählergruppe ausreichend groß ist, da Überzeugungsraten von über 100% nicht möglich sind, bei kleinen Wählergruppen jedoch erforderlich wären, um nicht an der Sperrklausel zu scheitern - die Anarchosyndikalisten alleine (um mal ganz willkürlich eine Gruppe herauszugreifen) tragen einen nicht über die 5%-Hürde.

Der integrative Ansatz steht vor der Problematik, dass die einzelnen Wählergruppen nur bedingt kompatibel sind (z.B. die Gruppen "Grenzen auf für alle" und "Ausländer raus" lassen sich nicht gleichzeitig ansprechen). Die Kunst besteht nun darin, eine Set von verschiedenen Wählergruppen anzusprechen, die hinreichend kompatibel sind. Hilfreich dafür sind eine vage Positionierung und das Ausklammern kontroverser Themen (zumindest in der öffentlichen Darstellung). Die großen Volksparteien beherrschen diese Strategie ganz brauchbar, dementsprechend langweilig treten sie auch auf.

Eine kleine, vergleichsweise neue Partei kann diese Strategie nicht 1:1 kopieren. Die Piratenpartei war jedoch zeitweise recht erfolgreich mit der Strategie, bei "ihren" Themen Profil zu zeigen und ansonsten sehr pragmatisch und undogmatisch aufzutreten.

Warum wurde die Piratenpartei 2011/2012 gewählt

Bei überregionalen Wahlen werden einige Wähler nach dem Verlassen des Wahllokals befragt. Diese Befragungen sind nicht nur Grundlage der Prognose, sondern auch anderer Informationen. Zum Beispiel kann darüber auch ersehen werden, welche Themen den Wählern der betreffenden Partei wichtig sind.

Bei den erfolgreichen Landtagswahlen der Jahre 2011 / 2012 sah das wie folgt aus:

Themen be.png

Themen sl.png

Themen sh.png

Themen nrw.png

Diese Ergebnisse sind mit einer gewissen Vorsicht zu verwenden:

  • Es werden die Begriffe dort vorgegeben. Was nicht abgefragt wird, kommt auch nicht vor. Damit könnte es zu erklären sein, dass "Netzpolitik" bei der AGH-Wahl noch nicht vorkommt.
  • Aus demselben Grund steht da "soziale Gerechtigkeit" (was eigentlich ein "Kampfbegriff" der SPD ist) und nicht z.B. "soziale Sicherheit" oder "Grundeinkommen".

In der öffentlichen Wahrnehmung hat "soziale Gerechtigkeit" im engeren Sinne nie eine nennenswerte Rolle gespielt. Das einzige Thema der Sozialpolitik, mit dem wir in der öffentlichen Wahrnehmung eine größere Rolle gespielt haben, war das bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Ich sehe keine andere plausible Erklärung, als dass wir bei den vier erfolgreichen Wahlen primär wegen unserer Position zum BGE gewählt worden sind.

Warum wurde die Piratenpartei seit Mitte 2012 nicht mehr gewählt

Es spricht hier eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass es nicht den einen Grund gab, sondern eine Menge von unterschiedlich gewichtigen Gründen:

  • Durch unser Eintreten gegen das Leistungsschutzrecht sind wir in einen Konflikt mit den wirtschaftlichen Interessen der Presseverlage geraten. Infolge dessen (das wurde teilweise auch von Journalisten direkt so gesagt) wurde über uns kritischer berichtet, wurde der Fokus auf Dinge gerichtet, die bei uns weniger gut gelaufen sind.
  • Die Zusammenarbeit des in Neumünster gewählten Bundesvorstands war vor allem aus Außensicht nicht gut.
  • Das Erfordernis mehrerer Aufstellungsversammlungen in Niedersachsen erweckte den Eindruck einer Dilletantenpartei.
  • Meiner Meinung nach (das kann ich jetzt nicht belegen, halte es aber wegen der vorhin aufgeführten Wählerthemen für sehr wahrscheinlich) der gewichtigste Grund war, dass wir beim Thema Grundeinkommen massiv an Glaubwürdigkeit verloren haben. Es mag sein, dass der "Rücktritt vom Amt" jetzt keine vollumfänglich durchdachte Aktion war. Durch die auch öffentliche Distanzierung des restlichen Bundesvorstands von unserer "BGE-Symbolfigur" haben wir uns gleichzeitig von unserem wichtigsten Wahlkampfthema distanziert.

Was ist zu tun?

Es passt meiner Ansicht nach nicht zum Selbstverständnis der Piratenpartei, jeder sich irgendwo abzeichnenden Erfolgschance hinterherzuhecheln. Zu unserem Charme - und auch der ist maßgeblich, nicht nur für Wahlerfolge, sondern auch zur eigenen Zufriedenheit - gehört auch eine gesunde Distanz zum etablierten Politikbetrieb.

  • Die Piratenpartei verfolgt grundsätzlich einen integrativen Ansatz und versucht, jede Wählergruppe anzusprechen, die zumindest halbwegs mit §1 der Satzung und dem Grundsatzprogramm kompatibel ist. Die Landtagswahlen 2012 - insbesondere Saarland und Schleswig-Holstein - haben gezeigt, dass wir damit bis weit in das sogenannte "bürgerliche Lager" hinein Stimmen gewinnen können (siehe die Links oben, und dann auf "Wählerwanderung").
  • Voraussetzung dafür ist auch, dass wir Meinungspluralismus vorleben und zu unserer Existenz als "bunte Gruppe" stehen. Es dürfte hilfreich sein, das große Spektrum der unterschiedlichen Positionen auch in Vorständen und Landeslisten abzubilden.
  • Die Piratenpartei betrachtet Sozialpolitik als eines der Kernthemen und kommuniziert es aktiv nach außen. Wir haben nicht nur "soziale Gerechtigkeit" in §1 der Satzung stehen, es ist nicht nur das wichtigste Theme für unsere potentiellen Wähler (und Stimmen von dort schaffen erst die Voraussetzung dafür, in den Parlamenten unsere anderen Kernthemen voranzubringen): Eine brauchbare Sozialpolitik ist auch eine notwendige Bedingung für ein Interesse an unseren anderen Kernthemen - wer nicht weiß, von was er sein Abendessen bezahlen soll, den interessiert weder die NSA noch TTIP, der setzt sich weder für einen anderen Umgang mit Flüchtlingen noch für eine Reform der Immaterialgüterrechte ein.
  • Glaubwürdigkeit ist ein Pfund, mit dem wir wuchern könnten, hätten wir sie nicht so grundlegend verspielt. Diese neu aufzubauen dürfte eine Sache eher von Jahren denn von Monaten sein - um so wichtiger, dass bald damit begonnen wird: Wir sollten ein innerparteiliches Pedant zum Informationsfreiheitsgesetz haben, wir sollten baldmöglichst das Versprechen innerparteilicher Partizipation einlösen (egal, ob wir da jetzt SMV oder BEO als Abkürzung verwenden), wir sollten die Sacharbeit unserer Parlamentarier im Bereich Sozialpolitik stärker in den Fokus der Außendarstellung rücken.
  • Glaubwürdigkeit haben wir noch bei der Selbstbeschränkung im Bereich der Parteispenden. Es wäre ein kluger Zug, das von einer Schatzmeisterempfehlung zu einer harten Satzungsregelung zu machen.
  • Der innerparteiliche Umgang ist ein Beleg dafür, wie wir mit anderen Menschen umgehen. In der derzeitigen parlamentarischen Demokratie machen die Wählenden alle vier bis fünf Jahren ein Kreuz und sind in der Zeit dazwischen den gewählten Parteien weitgehend schutzlos ausgeliefert - keine Situation, die zu Experimenten mit Parteien einlädt, die wenig behutsam und wertschätzend mit anderen Menschen umgeht. Zudem schadet der innerparteiliche Umgang massiv der Wahlkampf- und Kampagnenfähigkeit und der programmatischen Arbeit.