Antrag Diskussion:Bundesparteitag 2013.1/Antragsportal/WP070

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Vorbemerkung

Marcel C aus Schwerte: Ich hoffe, ich sprenge den Rahmen hier nicht und ich hoffe, dass dieser Beitrag hier richtig ist. Da der Antrag auf einer veralteten Liquid-Feedback-Diskussion fußt, in der weder meine Argumente noch die Standpunkte der im Bereich Gesundheitspolitik aktiven Piraten berücksichtigt wurden, kopiere ich nun die Diskussionsseite zum 2012er-Antrag auch hierhin. Hier also erneut mein Statement gegen diesen Antrag:

Ich bin prinzipiell ein Gegner der aktiven Sterbehilfe. Wie kann man prinzipiell gegen aktive Sterbehilfe sein? Wie kann man eine Freiheit verneinen und noch dazu die wichtige Freiheit, über das Ende des eigenen Lebens selbst zu bestimmen? Nun, eins vorab: Ich bin weder streng religiös noch konservativ noch esoterisch, meine Argumente fußen also auf der selben Grundlage wie die Argumente der Gegenseite.

Das Hauptproblem, das sich offenbart, wenn sich die Politik mit der aktiven Sterbehilfe beschäftigt, ist die oft übersehene Veränderung in der Gesellschaft sowie die schiere Existenz menschlicher Interaktion und sozialen Drucks. Was hier ignoriert wird ist möglicherweise eine Veränderung von Gesellschaft, Werten und Normen welche, und das erkläre ich im Folgenden ausführlicher, selbst sogar zu neuen Todeswünschen führen kann.


Beweggründe für einen Todeswunsch

Als primären Beweggrund für eine assistiere Selbsttötung werden meist Schmerzen und unerträgliche Lebensumstände angenommen. Doch wenn man sich versucht, soweit dies möglich ist, in die Situation eines Todkranken hineinzuversetzen, dann fallen vor allen Dingen auch völlig selbstlose Argumente schwer ins Gewicht. Man wäre dann angewiesen auf Ärzte und Krankenpfleger und empfindet sich selbst als Belastung diesen gegenüber, aber auch gegenüber der eigenen Familie und all denen, die man liebt. Kein Mensch ist gerne egoistisch und kein Mensch ist gerne eine Last für andere, erst recht nicht, wenn er auf dem Sterbebett liegt.

Einzelfall und Regelfall

Ich schließe mich sämtlichen Argumenten der Befürworter der aktiven Sterbehilfe an, da ich denke, dass sie im Einzelfalle Recht haben können. Doch wir Piraten sind so gestrickt, dass wir uns nicht nur den (evtl. emotional berührenden) Einzelfall anschauen, sondern uns ein Gesamtbild machen. Ein Gesamtbild davon, welchen Schaden eine Gesetzesänderung mit sich bringen kann. So wäre es im Einzelfall sicher nicht völlig falsch, einen Schwerverbrecher, der aktiv Kinderpornos dreht und dann verbreitet, frühzeitig zu fassen, indem man auf seinen Computer zugreift und ihn überwacht. Doch eine gesetzliche Regelung, die ein solches Handeln prinzipiell ermöglicht, würde eine Demokratiegefährdung darstellen. Wichtiger als der Einzelfall sind dabei die gesellschaftlichen Konsequenzen und Veränderungen und so ist es auch bei der aktiven Sterbehilfe. Des Weiteren fällt auf, dass Sterbehilfe in Deutschland unter der Hand sowieso straffrei praktiziert wird. Die aktuelle Lage jenseits der Legitimität scheint so wie sie ist optimal, sowohl für das Individuum, als auch für die Gesellschaft.

Wie würde sich auf lange Sicht die Gesellschaft verändern?

Das ist schwer einzuschätzen, doch zu befürchten ist, dass diejenigen, die an ihrem Lebensende den Freitod wählen, als "vernünftig" angesehen werden. Das ist insofern sehr problematisch, als dass dann logischerweise folgt, dass die gegenteilige Wahl, die Wahl zu kämpfen und damit die Wahl, um jeden Preis leben zu wollen, als unvernünftig, vielleicht sogar als eine Charakterschwäche angesehen wird. Wenn man diese Entwicklung zuende denkt, dann wird (in Zukunft noch mehr als in der heutigen Welt) in den Köpfen der Menschen zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterschieden. Das Ergebnis wäre sicher kein Genozid, jedoch durchaus ein "sich selbst Aussortieren" auf freiwilliger Basis. Dies würde zweifellos funktionieren, da grade diejenigen, die sich als Last für andere empfinden, oft einen Wunsch nach später Absolution in sich hegen und mit dem eigenen Tod in kontrollierter Umgebung die Möglichkeit hätten, etwas "Gutes" zu tun. Und da ist man nun an dem Punkt angelangt, der die größte Gefahr der aktiven Sterbehilfe birgt: Es entstehen neue Todeswünsche, wo zuvor keine waren, sobald die aktive Sterbehilfe zur gesellschaftlichen Normalität gehört. Und so grausam und rücksichtslos (evtl. assisitierte) Selbsttötungen durch Tod auf den Gleisen, durch Medikamente, durch Sturz oder durch Waffengebrauch auch sein mögen, so niedrig ist die gesellschaftliche Akzeptanz eines solchen Schrittes und so hoch ist auch die entsprechende Hemmschwelle für all diejenigen, bei denen sonst soziale Motivationen vorliegen würden. Ein solch drastischer Tod, welcher nicht einen gesellschaftlichen Rücken- sondern Gegenwind hat, passiert nur aus tiefster eigener Überzeugung. Dies ist bei Sterbehilfe leider nicht garantiert.

Sprachliche Schubladen

Man mag denken, die Sterbehilfe sowie die moralischen Entscheidungen, die mit selbiger Verbunden sind, beträfen im Allgemeinen primär nur Todkranke. Dies ist jedoch insofern falsch, als dass eine reale Abgrenzung nicht so leicht ist, wie die begriffliche. So lassen die Wörter, die wir zu Verfügung haben, in unseren Köpfen sprachliche Schubladen entstehen. Es ist ein schwer Kranker etwas anderes als ein Todkranker und so gehören Behinderte oder alte Menschen wiederrum in eine andere Kategorie. Die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus: Wer z.B. an Knochenschwund, Muskelschwund oder Parkinson erkrankt ist, den kann man als todkrank oder eben als behindert bezeichnen, schränken viele andere Behinderungen die Lebenserwartung doch ebenfalls deutlich ein. Ein schwer Kranker kann an seiner Krankheit sterben, ein vermeintlich Todkranker kann im Einzelfall noch ein langes Leben haben. Alte Menschen mögen auf Pflege angewiesen sein und Alterserscheinungen haben, die Behinderungen gleich kommen, gleichzeitig leiden sie unter zunehmender Altersschwäche, die auf einem indirekten Wege tötet (wie auch z.B. Immunschwächekrankheiten). Es besteht daher ein deutlich fließenderer Übergang zwischen Menschen mit Behinderung, Altersschwachen, schwer Kranken und Todkranken, als es der alltägliche Sprachgebrauch vermuten lässt.

Als moralisches Schwergewicht eine Gefahr für die Piraten

Im Kern beschäftigt sich die Piratenpartei mit ganz anderen Dingen. Wir kämpfen zusammen gegen Überwachung und für eine ausgebaute Form der Demokratie. Die Wahrung der Bürgerrechte im Infomationszeitalter sollte daher unsere primäre Aufmerksamkeit haben. Wer Pirat ist, hat daher bei vielen Themen eine gemeinsame Linie mit den anderen Piraten, doch nicht so beim Thema Sterbehilfe. Bei diesem persönlichen Thema zeigt scheinbar bei jedem Piraten der moralische Kompass in eine ganz andere Richtung. Wäre das Thema für den einzelnen nicht sonderlich wichtig, so könnte man sich problemlos mit der Meinung der Mehrheit arrangieren, auch wenn diese nicht die eigene ist. Doch ganz so leicht ist das nicht, wenn das Thema ein so großes moralisches Gewicht hat, wenn es um das Leben und um den Tod geht. Daher hat das Thema Sterbehilfe das Potential, Menschen (Aktive Piraten ebenso wie Piraten-Wähler) künftig zu spalten, die bislang an einem Strang ziehen.

Obwohl ich selbst es natürlich gerne sehen würde, wenn sich die Piratenpartei ausdrücklich gegen die aktive Sterbehilfe aussprechen würde, komme ich doch zu dem Schluss, dass die Piraten, wenn sie der Partei selbst nicht schaden wollen, meiner Meinung nach überhaupt keine Position zu diesem Thema einnehmen sollten.