RP:Stammtisch Ahrweiler/Wann die Piraten sich auflösen sollten
Dieser Artikel ist keine offizielle Aussage der Piratenpartei Deutschland. Hier wurde ein Essay von Ivo Dubiel verfasst. |
Wann die Piraten sich auflösen sollten
Die Piraten sollten sich auflösen, wenn sie nichts wesentlich anders zu sagen haben als etablierte Parteien. Wenn sie das gleiche oder ähnliches wollen, aber nur besser. Wenn sie nur Gutmenschen sind, die Steueraufkommen auf Benachteiligte transferieren, anstatt nach funktionierenden Systemen zu suchen. Wenn sie nur eine Liste von Forderungen haben ohne innere Struktur, beliebig verlängerbar. Zugegeben, es hilft ein wenig, als Konkurrenz die alten Parteien auf Trab zu bringen, damit diese unser Programm kopieren. Dann könnte man aber auch die etablierte Parteien von innen renovieren und dort Mitglied werden. Das muss man sogar, wenn andere uns in unseren Forderungen überholen.
Wir fordern Transparenz, basis-demokratische Entscheidungen, die Möglichkeit für alle, gesellschaftlich mitzumachen. Diese Liste ist verlängerbar und daran arbeiten wir. Die Berlin-Wahl veränderte die Basis der Piraten und viele brachten ihren Elan und ihre guten Vorstellungen ein, die sie im Programm festgeschrieben sehen wollen. Auch gehorchen wir dem Vorwurf, wir hätten kein Programm, und erstellen das perfektionistische.
Das ist alles verständlich und gut, macht die Piraten aber zu einer Partei wie die anderen und damit verzichtbar. Der Vorwurf, wir hätten kein Programm, trifft auf unseren gesunden Kern: Wir brauchen auch keins, denn wir haben ein anderes Betriebssystem, aus dem wir die konkreten Vorstellungen mal mehr, mal weniger zwingend ableiten können. Der Unterschied zu anderen Parteien dürfen nicht unsere Programmpunkte sein, sondern unser Ziel: ein modernes, leistungsfähiges gesellschaftlichen Betriebssystem, das die heutigen Möglichkeiten benutzt. Wenn wir dieses andere Betriebssystem aus den Augen verlieren und nur an das Programm denken, dann brauchen wir uns nicht auflösen, dann haben wir uns aufgelöst.
Betriebssysteme oder Weltbilder zu beschreiben ist schwierig. Kein Franzose kann sagen, was das französische Weltbild ist; er lebt es einfach. Erst im Ausland merkt man, dass man Deutscher, Franzose oder Engländer ist. Als die Mehrheit der Amerikaner Bushs Angriff auf den Irak unterstützte und der Rest der Welt dagegen war, wurde klar, dass es ein amerikanisches und ein anderes Weltbild gibt. Es sind die ungeschriebenen Regeln, die man einhält, ohne sie zu kennen, die unser Leben bestimmen.
Das Weltbild der Piraten entstand aus den Möglichkeiten des Internets. Erst die unbegrenzte, chaotische Mitarbeit vieler ermöglichte die Veränderungen, die aus dem heutigen Leben nicht mehr wegzudenken sind. Plötzlich spielen Nationalitäten, Hautfarbe, Geschlecht, Titel, Geld und Einfluss keine Rolle mehr. Nicht die gute Idee des Einzelnen ist wichtig, sondern die Verbesserung dieser Idee durch die Unzähligen und Unbekannten. Der erste Satz jedes Volkswirts ist: Ressourcen sind knapp, daher sind sie wirtschaftlich zu verwenden. Das mag in einer statischen Wirtschaft so sein, nicht aber in einer dynamischen. Neue Ideen erlauben, mit den gleichen Ressourcen das Drei- und Vierfache zu schaffen. Und die wichtigste Ressource, neue Ideen, ist unerschöpflich, wenn es gelingt, sie in einer herrschaftsfreien Gesellschaft anzuzapfen. Wie in der Industriellen Revolution durch die Eisenbahn, die niemand erfunden hat, Güter besser und billiger wurden, so wird heute über digitale Schienen fast alles besser und billiger, vieles sogar kostenlos. Neue, sich selbst regulierende Systeme auf unterer Ebene müssen denen, deren Leitspruch „Ordnung und Fortschritt“ ist, als Chaos und Anarchie erscheinen. Anarchisten werden von Rechten wie Linken gehasst, da sie deren Ordnungsvorstellungen lächerlich machen. Damit die Welt trotz Internet weiter nach alten Regeln funktioniert, werden dem Internet künstliche Schranken und Grenzen auferlegt. Wenn dann das Internet tatsächlich nur eine Verlängerung der Ladentheke ist, bedarf es keiner Änderung des Denkens. Dann werden aber auch nicht die Kräfte freigesetzt, die eine weltweite, herrschaftsfreie Zusammenarbeit ermöglicht und neuen „Wohlstand der Nationen“ schafft.
Warum die Piraten sich nicht auflösen sollten
Angesichts der Angriffe auf die Freiheit des Internet traten die Piraten weltweit zu seiner Verteidigung an. In einigen Ländern haben sie begonnen, das Erfolgsmodell Internet auf die Gesellschaft zu übertragen. Noch heute erinnern Bildungseinrichtungen an ihren Ursprung: das Militär. Immer neue Vorschriften sichern den Arbeitsplatz eines Heers von Beamten und Angestellten. Alles muss ordentlich sein, d.h. kostspielig, kompliziert und ineffizient. Die Nicht-Abrechnung kassenärztlicher Leistungen gegenüber dem Kunden ist eine Aufforderung zum Betrug. Brauchen wir so viele Rechtsanwälte, wenn die Rechtsprechung anders wäre und sie - Hitler sei dank - kein Rechtsberatungsmonopol hätten? Die hohe Beschäftigungsrate der Vergangenheit in Industrieländern – eine Folge der Industriellen Revolution, die über billige Produkte weltweit die Arbeitsplätze traditioneller Industrien zerstörte und auf Branchen der Industrieländer konzentrierte, in denen erfolgreich gestreikt werden kann – wird noch immer als Normalität gesehen, die durch „Wachstum“ wieder erreichbar ist. Globalisierung und digitale Revolution haben diese „Normalität“ längst zerstört, ohne dass es die Parteien merkten. Für die neue Normalität müssen Wege gefunden werden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren, der durch Verteidigung der alten Regeln – z.B. Hartz IV – zerstört wird.
Was heute selbstverständlich erscheint, wurde geformt durch das vergangene Jahrhundert und ist heute daher objektiv falsch, denn die Voraussetzungen haben sich geändert. Was wir vorschlagen ist - notwendig - für viele konfliktiv. Es ist die Selbstverständlichkeit von morgen. Aber nichts ist mächtiger als eine Utopie, deren Zeit gekommen ist. Wir müssen diese Utopie formulieren, dann aber auf Sicht fahren und Fehlentwicklungen erkennen. Da gibt es wenig fertige Konzepte, da gibt es viel zu denken und zu experimentieren. Ein perfektes Programm, das eine andere Situation festschreiben will, hilft da wenig. Fehler sind unausweichlich, und es muss aus ihnen gelernt werden. Wenn Piraten diesen inneren Kompass als "Piratencodex" besitzen, neben ihrem Programm, sind sie unverzichtbar.
Ivo Dubiel 19.03.2013