Benutzer:Nihiltechno/Souveränität
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Souveränität als Ziel von Politik
Ein Gegenstand von Politik muss es sein, die Grenze zwischen individueller Freiheit und staatlicher Bevormundung immer wieder aufs Neue zu überprüfen und nötigenfalls zu korrigieren. Das Ziel dieser Politik ist die Rückführung des Staates auf eine Umfänglichkeit seiner Ziele und Aufgaben, mit denen er der Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit von Menschen möglichst nicht im Wege steht. Denn Anerkennung und Legitimität des Staates wachsen mit der Souveränität der ihn konstituierenden Individuen, und dies stärkt die Souveränität des Gemeinwesens auch als Ganzes.
Der Wähler in der Gummizelle
Die Politik ist ein ständiger Aufmerksamkeits- und Themenwettbewerb, und Politiker sind stets bemüht, Ereignisse des öffentlichen Lebens für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, indem sie sie mit ihrer Agenda (bzw. der ihrer politischen Gegner) zu verknüpfen versuchen. Eine strenge Kausalität ist freilich so gut wie niemals gegeben, und gerade aus den vielfältigen Möglichkeiten zur Einpassung der Wirklichkeit in Weltbilder erwächst die Abgrenzung zwischen politischen Parteien und die Verhandlungsmasse für Kompromisse.
Eine weitere erwünschte Eigenschaft dieses Wettbewerbs ist es, dass sich der Blick der Öffentlichkeit rasch und durchaus wirkungsvoll auf neue Probleme richten kann. Doch ist diese Methode auch anfällig für Aufmerksamkeitsdefizite und Opportunismus: Ebenso rasch kann sich der Blick von ungelösten Problemen wieder abwenden, einmal gemachte Fehler werden zu einem späteren Zeitpunkt eher überkleistert als korrigiert, und bei einem Wechsel der Regierung werden Gesetze nur ausnahmsweise abgeändert oder aufgehoben.
Bis hierhin sei kein Einwand erhoben. Kritikwürdig ist allerdings die Mittelbarkeit des Einflusses, den der Wähler hierzulande auszuüben vermag. Denn zu einer verbindlichen Überprüfung einer gemeinsamen Zielsetzung kommt es praktisch niemals. Es werden nur alle vier, fünf Jahre Stichproben aus einer gestaltlosen Masse akuter Befindlichkeiten und Aufregungen gezogen, und es handelt sich dabei um keine inhaltlichen Abstimmungen, sondern um die Wahl von Repräsentanten – zwischen Wille und Veränderung steht somit stets das Versprechen von Vermittlern. Was zwischen den Wahlen passiert, ist keine Demokratie, sondern es sind in Behörden und Dienststellen verankerte Automatismen, welche sich von ihren Pendants in undemokratischen Gesellschaften nicht wesentlich unterscheiden müssen.
Durch diesen fast lupenrein repräsentativen Charakter unserer Demokratie und flankiert von der Fünf-Prozent-Hürde ist der Bürger sehr wirkungsvoll von der Ausübung von Macht abgeschirmt: Er kann erstens nur Diktatoren auf Zeit wählen, die sich zweitens aus etablierten Cliquen mit einem Vertretungsanspruch für alle Themen (oder Weltbilder) rekrutieren müssen, und die sich drittens mit einigem Recht auf die Vergesslichkeit ihrer Wähler verlassen können. So regieren wenige politische Oligarchen das Land, und Wahlen als überschaubare, wohldosierte demokratische Infusionen sind wie maßgeschneidert, um den normativen Druck zur Bewahrung eines gesellschaftlich-politischen Mainstreams zu legitimieren.
Regulierung braucht Überwachung
Es sind diese Eigenschaften der Demokratie und des aus ihr resultierenden Staates, die jetzt unsere Aufmerksamkeit verdienen. Denn unser Staat ist nicht bescheiden. Stattdessen hat er sich mit Regulierungs- und Überwachungsfunktionen in Lebensbereiche des Alltags ausgebreitet, und die Grenze zwischen individueller Freiheit und staatlicher Regulierung ist heute weit in das Territorium von Freiheit und Privatsphäre vorgeschoben.
Die individuelle Freiheit ist gegenüber Eingriffen ein wehrloseres Opfer als der Staat, der sich mit den ihm eigenen Werkzeugen, darunter auch solchen zur Ausübung von Gewalt, gegen Einschränkungen und den Rückbau seiner selbst zur Wehr setzen kann. Der Staat neigt zu Wucherung und Raub: Jeder unregulierte Waren- und Dienstleistungsaustausch kann mit einer steuerlichen Stellschraube versehen werden, und was schon geregelt ist, kann stets noch feingliedriger reguliert werden, denn es bietet Anknüpfpunkte für immer neue Regeln.
Eine notwendige Veränderung besteht heute im Rückzug des Staates aus öffentlichen und privaten Angelegenheiten sowie darin, seinen Bürgern Freiheiten zurückzugeben, welche ihnen in Akten von Symbolpolitik, Aktionismus und Reflexhandlungen genommen wurden. Solche Fehler werden schon seit dem Bestehen der Bundesrepublik begangen: als Antwort auf die Angst vor realen oder eingebildeten Bedrohungen aus faschistischen Umtrieben, Klassenkampf, Außerparlamentarischer Opposition, Kaltem Krieg, Rauschmittelkonsum, Kriminalität, Spionage und Terrorismus.
Wir entwachsen in Deutschland – wenn überhaupt – nur langsam unserer Staatsgläubigkeit und Unmündigkeit, während unser Regulierungsapparat jahrhundertelang verhältnismäßig modern war. Auch in der Bundesrepublik haben wir dem Staat immer neue Aufgaben aufgebürdet. Er unterhält inzwischen so viele Ämter und Dienststellen, dass er sich mühelos selbst neue Aufgaben suchen kann – er ist dafür auf unser Mitwirken nicht mehr angewiesen. Selbst diese Metaaufgabe ist faktisch legitimiert, denn wir stimmen über keine Sachfragen und Gesetze ab. Keine Regierung könnte jemals für die gewachsene Regulierung allein verantwortlich gemacht und dafür abgewählt werden.
Wie fesseln wir uns heute?
Die Einhaltung von Regeln erfordert zwangsläufig Überwachung. Folgerichtig werden wir nur in den Genuss von mehr Freiheit und weniger Überwachung kommen, wenn wir es erstens unterlassen, nach immer neuen Gesetzen zu verlangen, uns zweitens aktiv um Deregulierung bemühen, und drittens Regulierung um ihrer selbst willen, d.h. als Akte von Symbolpolitik nicht länger dulden. Die erste Grundvoraussetzung für Veränderung ist es, selbst mehr Verantwortung zu übernehmen und seltener nach dem Staat zu rufen.
So weit, so gut: Mehr Verantwortung kann der Bürger übernehmen, sollte sich der Wunsch nach mehr Freiheit in einer Mehrheit der Bevölkerung manifestieren. Denn aufgrund der erwähnten geschichtlichen Kontinuität und vermittels Jahrzehnten demokratischer Legitimation sollten wir annehmen dürfen, dass nicht 'die da oben' es waren, die uns die aktuelle Erstarrung in Bürokratie und Fremdbestimmung eingebrockt haben, sondern wir selbst und unsere Vorfahren. Folgerichtig sollten wir durch Anwendung demokratischer Mittel diesen Missstand auch wieder beseitigen können.
Doch wenden wir uns um, sehen wir die Tür, durch die wir gekommen sind, hinter uns verschlossen: Wir stellen fest, dass mit unserer repräsentativen Demokratie Regeln so gut wie nicht zu beseitigen sind. Wie in einer Partie Mah-Jongg können Gesetze stets nur in einer verzwickten Reihenfolge aus ihrem jeweiligen Verbund herausgelöst werden, und somit liegen Freiheitsbeschränkungen tief in einem Gesetzeshaufen begraben, der in Jahren und Jahrzehnten über ihnen aufgeschichtet wurde.
Wir können das Gesetzeswerk aber nicht Stück für Stück wieder abtragen, um früher gemachte Fehler freizupräparieren: Die Themen haben sich gewandelt, Mehrheiten für Themen der Vergangenheit lassen sich nicht wieder beschaffen – und schon gar nicht in der erforderlichen Reihenfolge. Vergangene Fehler nagen daher vielleicht an unserem Gemüt und machen uns krank, entfalten aber keine Wirkung mehr im Aufmerksamkeitswettbewerb.
Weniger Staat ist mehr
Bevor wir uns mit den Möglichkeiten zur Veränderung der Demokratie selbst beschäftigen, sollten wir untersuchen, ob das Ziel, staatliche Regulierung zurückzuführen, den Aufwand und die Gefahren von Veränderungen rechtfertigt. Denn ein ziemliches Novum wäre es, wenn unser Staat einmal besetzte Felder großflächig räumen und unreguliert zurücklassen würde.
Wir müssten dafür nicht viel hergeben, könnten aber reich belohnt werden: Unser Opfer bestünde im Mut zu einem selbstbestimmteren Leben, unser Gewinn in mehr Souveränität. Nicht nur müssten Bereiche ohne Regulierung nicht länger überwacht werden. Es würden Eigeninitiative und Kreativität freigesetzt, der Staat könnte unmittelbarer dem Wohl der Bürger dienen, effizienter arbeiten und sich finanziell entschulden. Und gerade Bürger, die sich nach Sicherheit sehnen, könnten von einer bis an die Wurzeln reichenden Stärkung des inneren Friedens, bürgerlicher Solidarität und Verfassungstreue profitieren.
Der Bürger und sein Staat sollten auf gleicher Augenhöhe stehen – wie Vertragspartner. Der Staat ist in dieser Darstellung unser aller Dienstleister, der seinen Vertragsteil erfüllt, indem er ein mit möglichst allen Bürgern vereinbares Gemeinwohl definiert und ihm zu Diensten ist¹. Dazu ist es erforderlich, zwingend hoheitliche Aufgaben, für die es nur einen Anbieter geben kann, sorgfältig von jenen zu scheiden, die Menschen auch privat oder privatwirtschaftlich erledigen können.
Zu den Aufgaben des Staates gehören (neben der Territorialaufsicht, Außenvertretung und Justiz) Infrastruktur- und Ordnungsdienste wie z.B. eine Polizei. Denn eine Aufgabe des Staates ist es, seine übrigen Aufgaben nötigenfalls mit Gewalt durchzusetzen: Wenn auf die Durchsetzung der gemeinsamen Regeln verzichtet würde, hätte sich der Staat abgeschafft. Insofern ist auch Polizeigewalt heute fast immer begründbar und legitimiert, auch wenn wir vor ihrer vermeintlichen Unverhältnismäßigkeit erschrecken.
Der Ungeheuerlichkeit, die in dieser einfachen Feststellung steckt, sollte man sich stets bewusst sein, besonders dann, wenn man versucht ist, nach neuen Gesetzen und Vorschriften zu rufen: Zur Befolgung von Gesetzen werden Menschen nötigenfalls mit Gewalt gezwungen werden. Weil schon so viele geschrieben wurden, ist der Akt der Aufhebung überflüssiger Gesetze heute mindestens so erstrebenswert wie der des Schreibens neuer, und eine politische Kultur, die dies in Anerkennung und Wahlsiege umzusetzen vermag, mag im Entstehen begriffen sein, muss aber noch wachsen.
Der Schritt hin zu dieser Kultur erfordert ein Mindestmaß an Reflexivität und Indirektion: Er verlangt von den Teilnehmern, es auch dann nicht gutzuheißen oder in Kauf zu nehmen, wenn es Andersdenkende sind, die von Gesetzen eingeschränkt und im Extremfall von Polizisten zusammengeknüppelt oder eingesperrt werden. Das Schicksal, andersdenkend in einer normativen Gesellschaft zu sein, kann uns alle zu gegebener Zeit ereilen.
Das Internet war erst der Anfang
Bis es so weit ist und sich diese Sichtweise in Bevölkerungsmehrheiten manifestiert, werden Wähler einen Gesetzgeber nach dem anderen, gleich welcher Couleur, stets dazu ermuntern, wie ein gieriger Algorithmus das ohne Vorausschau Erreichbare an sich zu reißen, bis sämtliches Potenzial zu naiver Veränderung verbraucht und in Gesetze eingegossen ist. Das ist schlimm genug, doch es geschieht dies oft in Akten von Symbolpolitik, das heißt, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Diese Motivation hat uns stets die irrationalsten und dreistesten Eingriffe in die Freiheit beschert.
Staatlicher Drangsalierung und Unterdrückung kann am ehesten Einhalt geboten werden, indem der Staat auf wenige Ziele fokussiert sowie mit Sorgfalt und Zurückhaltung eine Abgrenzung seiner Aufgaben vorgenommen wird – und nicht, indem immer neue Themenfelder der Regulierung preisgegeben und immer mehr Ausnahmen (und Ausnahmen von den Ausnahmen) ersonnen werden, um den Staat trotz im Kern widersprüchlicher, ausufernder und fehlerhafter Aufgabenbeschreibungen 'gerecht' (tatsächlich: am Funktionieren) zu erhalten.
Die Folge wird sein, dass er irgendwann Menschen normierter Gesinnung produzieren und mit Akzeptanzproblemen konfrontiert werden wird, welchen er dann zuerst durch noch mehr Regulierung und schließlich durch die Anwendung von Gewalt begegnen wird. Denn, wie bereits angeführt, der Staat trägt die Gene zum Selbsterhalt in sich, und dieses Erbgut wird im Krisenfall seine unbedingte Ausprägung erfahren, auch und gerade wenn der Staat der Kontrolle durch seine Bürger entgleitet.
Es ist daher die Grundlage einer langfristig tragfähigen Politik, nicht nur die Aufgaben des Staates zu benennen, sondern vor allem aufzuzeigen, was nicht Bestandteil seiner Aufgaben zu sein hat. Diese Abgrenzung fällt um so leichter und ist um so verlässlicher, je freiheitlicher und dienstleistungsorientierter der Staat sein soll. Auf einer solchen Abgrenzung als Tragwerk kann eine dauerhafte Belastung mit politischen Inhalten gelingen, denn es erfolgte eine Fokussierung auf das, wofür Menschen ein Gemeinwesen überhaupt benötigen und worauf sie sich am ehesten einigen können.
Die Ausarbeitung im Detail ist selbstredend Gegenstand des politischen Diskurses sowie von Koalitionen und Kompromissen, doch ebenso wichtig wie konkrete Forderungen nach Gesetzen und Regeln, die in der Aufregung der Tagespolitik erhoben werden, sind grundsätzliche Spielregeln zum Wohle einer Hygiene in der Gesetzgebung und zur nachhaltigen Legitimation und Stabilität unseres öffentlichen Gemeinwesens. Auch was man nicht zu regulieren gedenkt, ist eines Wahlversprechens würdig.
¹ Der Bürger erfüllt seinen Vertragsteil, indem er auf Gewalt verzichtet, den Staat legitimiert, Personal zu seinem Unterhalt stellt und ihn finanziert.
² Schäffler, Tofall: Währungswettbewerb als Evolutionsverfahren