Benutzer:Michael Ebner/Wahlanalys Berlin2

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Unter Wahlanalyse Berlin habe ich kurz nach der Berlin-Wahl meine ersten Gedanken runtergeschrieben. Im Nachhinein betrachtet waren meine Gedanken zwar nicht falsch, aber auch nicht gut - zumindest nicht gut genug.

Zweiter Versuch...

Die korrekte Fragestellung

Bei Lichte betrachtet habe ich schon die falsche Frage gestellt: Warum sind wir nicht mehr erfolgreich. Ja, dafür habe ich auch Gründe gefunden. Auch welche, die ich für zutreffend halte. Aber es ist schon die falsche Fragestellung.

Die korrekte lautet: Warum waren wir überhaupt jemals erfolgreich?

Ok, Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen lassen sich vielleicht mit dem Hype erklären. Damit, dass Marina gefühlt "Everybodys Darling" war.

Aber Berlin?


Die vier Faktoren

Damit ein Wähler eine Partei wählt, müssen nach meiner Meinung vier Faktoren zusammenkommen:

  • Erstens: Ein gewisses Mindestmaß an gefühlter inhaltlicher und kultureller Anschlussfähigkeit. Das muss nichts mit der tatsächlichen Position der Partei zu tun haben. Mit dem Programm schon gleich gar nichts.
  • Zweitens: Der Wähler muss davon erfahren.
  • Drittens: Keine NoGos
  • Viertens: Eine gewisse Zuversicht, dass die Wahl dieser Partei irgendeinen Sinn ergibt.

Mit diesen vier Faktoren haben wir 2011 ein sehr heterogenes Gemisch an mit den bisherigen Parteien Unzufriedenen angesprochen. Die Wählerwanderung 2011 betrachtet haben wir ja quer über das Parteispektrum und auch zu einem erheblichen Teil aus dem Bereich der Nichtwähler Stimmen bekommen.

Die Gruppe "Unzufriedene mit den bisherigen Parteien" ist enorm groß, gefühlt 80% der Stimmagebenden wählt "das kleinere Übel", bei den Nichtwählern dürfte der Anteil nicht geringer sein.

Betrachten wir nun diese vier Faktoren im Jahre 2011:


Anschlussfähigkeit

Die Anschlussfähigkeit war 2011 bei ausreichend vielen Gruppen gegeben:

  • Von den Internet-affinen Menschen wurden die Piraten als "ihre Partei" gesehen.
  • Das grüne Millieu war nicht uneingeschränkt begeistert von der damaligen Spitzen-Kandidatin.
  • Wähler der Links-Partei waren teilsweise erheblich "pissed" von deren Verhalten als Koalitionspartner.
  • Wähler der F.D.P. waren am "laut schreiend davonrennen"
  • Notorisch Unzufriedene setzten sich kein bisschen mit dem Programm der Piraten auseinander und versprachen sich alleine von dem Parteinamen, dass die ihnen verhassten etablierten Parteien mal richtig Feuer unter'm Gesäß gemacht bekommen.

Das ist erst mal Potential für weit mehr als 10%


Der Wähler muss davon erfahren

Die Wahlkampf-Daramturgie war ein Glücksfall: Das begann mit dem Wetter beim Plakatierungsstart, dem ersten eigenen Balken, dann gezielte Abfrage bei den Umfrage, dadurch größerer nächster Balken, die Presse (der in diesem Wahlkampf ohnehin das Futter fehlte) schreibt über die Piraten, es erfahren mehr Wähler davon, die Politiker der Etablierten werden nervös, agieren ungeschickt, Piraten sind Thema, Sympathie-Bonus für uns, etc.

Möglicherweise hätte ein anderes Wetter an einem einzigen Wochenende ausgereicht, und es hätte diesen Erfolg nie gegeben.


Keine NoGos

Die ganzen heftigsten Streitereien Anfang 2011 hat in der Öffentlichkeit keiner mitbekommen. Auf den Plakaten gibt es keine NoGos - welcher Verbraucher sollte schon was gegen "Netze in Nutzerhand" haben. Selbst "Religion privatisieren jetzt" hört sich selbst für gläubige Menschen nicht als NoGo an, die fordern das teilweise selbst. Politische Programm liest quasi keiner.


Zuversicht

Je näher sich die Piraten an die 5% schoben, desto weniger zog das Argument mit der verlorenen Stimme - nach dem Überschreiten ohnehin nicht mehr. Mal etwas frischer Wind im AGH konnte ja nicht schaden.


Die Situation 2016

Vergleichen wir das mit 2016:


Anschlussfähigkeit

Die Anschlussfähigkeit war 2016 bei vielen Gruppen nicht mehr gegeben

  • Von den Internet-affinen Menschen waren viele von den Piraten enttäuscht: Solche, die stärkere Fokussierung auf Kernthemen gewünscht hätte, solche, denen feministische Politik ein rotes Tuch ist, etc.
  • Das grüne Millieu konnte mit dem politischen Personal deren Partei durchaus warm werden.
  • Die Links-Partei war jetzt Opposition und durfte wieder die richtige Meinung haben.
  • Die F.D.P. hatte sich konsolidiert und war für die Liberalen wieder das kleinere Übel.
  • Notorisch Unzufriedene hatten sich mehr "Feuer unter'm Gesäß" versprochen, die Piraten waren zu zahm, zu konstruktiv, zu akademisch - außerdem gabs nun die AfD.

Da wurde das Potential schon mal kräftig reduziert.


Der Wähler muss davon erfahren

Wahlomat, Plakate, Infostände. Kein Stadtgespräch. Presse nur, wenn es Negatives zu berichten gibt, oder wenn mal wieder berichtet werden kann, dass die Piraten nun wirklich endgültig gekentert sind.


Keine NoGos

NoGos am laufenden Band. Das grüne Millieu bemängelt, dass wir immer noch keine Frauen-Quote haben, die Nerds, dass wir gendern. Den Konservativen und Rechten missfällt der dank an Bomber-Harris, den Linken missfällt, dass die Betreffende dafür überhaupt kritisiert wurde. Dazu streiten wir uns ja nur noch, so dass fast alle Abgeordneten die Partei verlassen haben und von deren Wahl warnen - ja wenn die das schon sagen?

Und dann noch so ein Plakat mit dem süßen Ferkelchen: Erzeugt allenfalls ein schlechtes Gewissen, wahrscheinlich eher eine Trotzreaktion, aber doch keine Wählerstimmen. Überzeugte Tierschützer haben ihre eigene Partei.


Zuversicht

In den Umfragen nicht vorkommend, also "verlorene Stimme". Die Presse schreibt Abgesänge. Und alle, die gut waren, sind ja jetzt angeblich bei anderen Parteien untergekommen. Warum soll man die wählen?


Vermutungen

Inzwischen bin ich der Ansicht, dass es nicht unseren ganzen "Fehler und Skandälchen" waren, die uns den Erfolg gekostet haben - ich will noch kurz darlegen warum. Diese Ansicht beruht klar auf Schätzungen, ich kann das somit nicht beweisen.

Ich schätze, dass wir 2011 ein Potential von etwa 18% hatten. Gerechnet wie folgt: Jede der aufgezählten Gruppen im Schnitt 3%, die Unzufriedenen jedoch doppelt (einmal von den Volksparteien, einmal von den Nichtwählern). Die eine Gruppe mag etwas größer, die andere etwas kleiner gewesen sein. Diese theoretisch möglichen 18% haben wir dann zu 50% ausgeschöpft - weil eben in den anderen Faktoren so viel glücklich lief.

Aufgrund deutlich verringerter Anschlussfähigkeit schätze ich das Potential 2016 auf 6%, also auf ein Drittel reduziert. (Es spricht manches dafür, dass es noch geringer gewesen ist, aber bleiben wir mal bei 6%.) Dieses Potential hätten wir dann zu etwa 30% ausgeschöpft, was schon alleine durch den Einfluss der 5%-Hürde erklärbar wäre.


Strategie

Wenn ich mit dieser Analyse zumindest so halbwegs richtig liege, dann lässt sich daraus die folgende Strategie ableiten:

  • Unter einem Potential von 10% können wir es allenfalls dann schaffen, wenn wir extrem günstige Umstände haben. Realistisch betrachtet brauchen wir für einen Wiedereinzug in das AGH ein Potential von mindestens 15%. Und selbst dann darf der Ausschöpfungsgrad nicht weiter absacken.
  • Grüne und Linke werden Regierungsparteien, somit zu unschönen Kompromissen gezwungen, das könnte für etwa 6% Potential sorgen. Wenn auf Bundesebene unserer Partei ein guter Job gemacht wird, wächst das Potential unter den Netz-Affinen wieder auf 3%.
  • Brauchen wir noch zusätzliche (!) 6% Potential. Das könnte entstehen, wenn sich Unzufriedene von der AfD abwenden, das könnte über Themen wie Drogenpolitik oder BGE entstehen, innerhalb von 4 Jahren können auch weitere Themen entstehen. Das Potential von 15% ist dank von R2G nicht grundsätzlich unerreichbar.
  • Parallel dazu sollte am "Ausschöpfungsgrad" gearbeitet werden: Verbesserung der eigenen Glaubwürdigkeit (z.B. bei innerparteilicher Mitbestimmung endlich liefern, und zwar datenschutzkonform), Verfahren etablieren zur Deeskalation innerparteilicher Konflikte, Kampagnenfähigkeit herstellen, etc.

Etliche Punkte werden uns auch geschenkt: "Die Piraten sind tot" ist in 5 Jahren keine Story für die Presse mehr, "die Piraten sind wieder da" wäre schon eine. Eigene Abgeordnete können nicht mehr vor der Wahl warnen.

Insgesamt ist die Situation längst nicht so aussichtslos, wie sie zunächst scheint - vorausgesetzt R2G hält bis zur nächsten Wahl. Es ist aber auch sicher kein Selbstläufer.