BE:Positionspapiere/Chancengleichheit im Bildungssystem
Im europäischen Vergleich fällt Deutschland durch Bildungsbenachteiligung und eine besonders hohe soziale Selektion im Bildungssystem auf. Diese werden durch „harte“ organisatorische Mechanismen und „weiche“ kulturelle Mechanismen verursacht. Die Piratenpartei setzt sich für mehr Chancengleichheit ein: Die soziale Herkunft darf nicht mehr über den Bildungserfolg entscheiden.
Langes gemeinsames Lernen
Um mehr Chancengleichheit zu erreichen, treten wir uns für ein langes gemeinsames Lernen von Kindern mit verschiedenem sozialen Hintergrund ein. Je früher eine Selektion in verschiedene Schultypen stattfindet, desto stärker hängt das Ergebnis davon ab, mit welchen finanziellen Mitteln, welchem Bildungskapital, welchen Erfahrungen, Kompetenzen und Strategien für Bildungswege die Kinder von ihrem Elternhaus ausgestattet wurden. Das Schulsystem sortiert dann nach bereits zuvor bestehenden Gruppenzugehörigkeiten und reproduziert diese. Daher unterstützen wir Schulformen mit heterogener Schülerschaft, die sich um Binnendifferenzierung und möglichst langes gemeinsames Lernen bemühen, wie z.B. die Gemeinschaftsschulen in Berlin. Die Piratenpartei fordert hier eine angemessene Ausstattung, eine Experimentierklausel und die Möglichkeit eigene Oberstufen aufzubauen, damit sie sich als attraktive Schulen neben dem Gymnasium behaupten können.
Abschied von einem einseitigen Verständnis vermittelnswerter Bildung
Bildungsinhalte sollen sich nicht mehr einseitig an der Norm eines bildungsbürgerlichen Kanons orientieren, sondern andere Perspektiven und ein interessegeleitetes Lernen zulassen. Den unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen der Lernenden soll mit Achtung begegnet werden. Schulen sollten einen Bildungsbegriff vertreten, der junge Menschen nicht benachteiligt, weil ihr Elternhaus sie nicht mit bildungsbürgerlichem Vorwissen, Codes und Spielregeln ausgestattet hat.
Lehrkräfte für Selektionsmechanismen sensibilisieren
Lehrkräfte müssen dafür sensibilisiert werden, wie sich Selektionsmechanismen auswirken. Dies sollte in der Aus- und Weiterbildung ebenso geschehen wie im laufenden Bildungsbetrieb. Lehrkräfte sollten beispielsweise wissen, wie sich ihre eigene Herkunft, Bildung und gesellschaftliche Positionierung unbeabsichtigt auf ihren Unterricht und ihre Leistungsbewertungen auswirkt. Sie sollten Vorurteile identifizieren und selbsterfüllenden Prophezeiungen entgegenwirken können. Sie müssen über die Bedürfnisse und Kompetenzen von mehrsprachigen Kindern und Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern informiert sein und ihnen gerecht werden können.
Mehrsprachigkeit als Chance begreifen und fördern
Eine zweisprachige Sozialisation wird in Deutschland nur geschätzt, wenn es sich um eine populäre Sprache wie Englisch, Französisch oder Chinesisch handelt. Bei vielen Jugendlichen mit beispielsweise türkischem oder arabischem Migrationshintergrund werden dagegen eventuelle Defizite beim Erwerb der deutschen Sprache hervorgehoben. Darin sehen wir eine Diskriminierung. Schulen versuchen heute oft, das Lernen der Zweitsprache Deutsch zu fördern, indem die Muttersprache so weit wie möglich aus dem Schulalltag herausgehalten wird. Das wirkt sich nicht nur negativ auf das Selbstwertgefühl der Lernenden aus und führt zu Verweigerung und Abschottung. Es ist auch für viele Kinder eine Überforderung, zumal sie an den gleichen Maßstäben gemessen werden wie Kinder, die Deutsch als Muttersprache sprechen. Studien aus erfolgreichen PISA-Ländern wie Kanada und Finnland belegen: Für ein gesundes Selbstwertgefühl der Lernenden und um die Bereitschaft, die Zweitsprache zu erwerben, zu fördern, ist es unabdingbar, die Muttersprache einzubeziehen. Bilingualität soll bedeuten, in beiden Sprachen einen sicheren Stand zu erwerben.
Wertschätzung der Muttersprache und des mehrsprachigen Spracherwerbs: Mehrsprachigkeit ist ein Wert, den es zu fördern gilt. Verbote, in der Muttersprache zu kommunizieren, lehnen wir ab und setzen stattdessen auf die Einbeziehung aller gesprochenen Sprachen. Dafür müssen die vorhandenen pädagogischen Erkenntnisse aus bilingualem Unterricht, z.B. an Europaschulen, für alle Schulen verfügbar gemacht werden, die Kinder mit Deutsch als Zweitsprache unterrichten. Wir begrüßen muttersprachlichen Unterricht zur Festigung der Muttersprache und zum leichteren Erwerb des Deutschen. Dies darf jedoch nicht mit Selektion der Lernenden in verschiedenen Klassen anhand von Sprache und Herkunft einhergehen. Gezielte muttersprachliche Förderung ist auch in einigen eigenen Stunden für mehrsprachige Kinder möglich. Parallele Alphabetisierung in beiden Sprachen: Eine Bezugnahme auf die Muttersprache hilft Lernenden, bei denen Deutsch als Zweitsprache noch nicht gefestigt ist, und schließt Lücken in der Muttersprache. Neben den intuitiven Spracherwerb soll ein reflektierter treten. Dazu muss die Didaktik von „Deutsch als Zweitsprache“ stärker in die Lehrerausbildung und die Fortbildungen eingehen. Sprachfortbildung für nur-deutschsprachige Lehrende und Erziehende: Eine Weigerung der Lehrenden, in die Muttersprachen ihrer Schülerinnen und Schüler einzutauchen, ist auch ein Zeichen der geringen Wertschätzung dieser Sprachen. Warum sollen nicht alle Lehrer und Schüler lernen, wie die Obstsorten auf Deutsch, Türkisch, Kroatisch und Spanisch heißen und welche Schimpfwörter auf dem Schulhof gebräuchlich sind? Überprüfung der Bewertungskriterien in den Sprachen: Schülerinnen und Schüler, die Englisch als Fremdsprache lernen, werden bei der Bewertung nicht mit Muttersprachlern verglichen, sondern mit anderen Englischlernenden. Aus dem gleichen Grunde sollte es bei der Bewertung einen Nachteilsausgleich für Kinder geben, die mit fehlender Beherrschung der deutschen Sprache starten. Die Anforderungen und Bewertungskriterien für Kinder mit Migrationshintergrund müssen ihrem Startpunkt Rechnung tragen, um Fortschritte im Spracherwerb wirklich würdigen zu können. Rechtschreibung als Werkzeug, nicht als Dogma betrachten: Über die Rechtschreibung findet in der Schule nach wie vor soziale Selektion statt. Wo sich Erwachsene längst herausnehmen, ihre Briefe mit Hilfe der Rechtschreibkorrektur und oft völlig unbeleckt von der neuen Rechtschreibregeln zu schreiben, wird in der Schule und von Arbeitgebern noch erwartet, dass Jugendliche alle Regeln beherrschen und vor Flüchtigkeitsfehlern gefeit sind. Das ist unzeitgemäß. Hier kann auch Schule einen erfolgversprechenden und pragmatischen Umgang lehren. Die Zero-Fehlertoleranz-Regel gehört auf den Prüfstand. Sie richtet sich nicht nur als absurdes Nadelöhr gegen Kinder mit Rechtschreibschwächen, sondern auch gegen Schüler mit Migrationshintergrund.