Trennung von Wirtschaft und Demokratie

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Ivo Dubiel, März 2015

Fundamentalkritik

„Piraten sind möglicherweise nett und ihre Punkte interessant – bieten aber keine Alternative und sind daher nicht wählbar.“ Und es ist nicht absehbar, wie die Piraten sich von dieser Einschätzung befreien können. Dabei sind die Umstände mehr als günstig. Snowdon zeigte, wie radikal Staaten in die Privatsphäre der Bürger eingreifen und dass alle Politiker jederzeit öffentlich vorgeführt werden können, wenn sie unbequem werden. Die Zahl der Nichtwähler, derjenigen, für die das „System“ nicht ihr System ist, nähert sich den 50 %. Damit sind bestimmte soziale Schichten nicht mehr repräsentiert und die „repräsentative Demokratie“ nicht mehr repräsentativ. Der Exportweltmeister Deutschland mag seine Arbeitslosigkeitszahlen niedrig halten, weil er mit seinem Ausfuhrüberschuss auch seine Arbeitslosigkeit ausführt – aber der Widerstand der Arbeitslosigkeit importierenden Partner ist bereits spürbar. Die internationale Konkurrenz um Investitionen schafft schrittweise jede Besteuerung des Kapitals ab und verstärkt die Besteuerung der Vermögenslosen durch hohe Verbrauchssteuern. Die Spirale steigender Polarisierung der Vermögen und Einkommen wird steiler – was die Demokratie weiter aushöhlt. Bald benötigen die obersten 10 % nur einen kleinen Teil ihres Einkommens, um die unteren 50 % der Bürger als Dienstboten einzustellen. Das Gewicht des Stimmrechts der „Dienstboten“ wird den politischen Einfluss ihrer „Herrschaften“ nicht aufwiegen. „Sachzwänge“ wie Steuerflucht zwingen die Regierungen zu einer Allianz mit den Reichen und zur Vernachlässigung des Bürgerwillens. So viele Steilvorlagen – und die Piraten können keine verwandeln.

Colin Chrouch beschrieb das als Postdemokratie: Hinter der Fassade demokratischer Wahlen bestimmen die Interessen der Eliten und nicht die der Bürger. Volksabstimmungen in Irland und den Niederlanden waren gegen die Lissabon-Verträge. Nach kleineren Veränderungen stimmten beide Regierungen den Verträgen zu. Papandreou wollte die Übereinkunft Griechenlands mit der EU einer Volksabstimmung unterwerfen. Die „demokratischen“ Regierungen der EU waren entsetzt über so viel Demokratie und Papandreou knickte ein. Die Neuwahlen in Griechenland waren aber eine Volksabstimmung. Doch die EU diktiert: Die früheren Vereinbarungen mit einer erpressten Regierung, nicht der Bürgerwille, sind bestimmend.

Nur wenn die Ursache dieser Ereignisse und Verwerfungen erkannt werden, wird klar, warum die Piraten entstanden, welche Rolle sie spielen sollten und warum sie heute keine Rolle mehr spielen. Sie haben ihren historischen Auftrag nicht im Blick und verzetteln sich. Aber noch besteht Hoffnung.

Historischer Vergleich

Die Welt vor dem 1. Weltkrieg ist weit entfernt und fremd. Aber es lohnt sich, ihre wirtschaftliche und politische Logik zu kennen, denn wenn sich nichts ändert, steuern wir auf diese Logik wieder zu. Sie ist der Normalfall. Die Welt seit dem 1. Weltkrieg bis zur Globalisierung und dem Fall der Mauer ist uns näher und bestimmt das, was wir für „normal“ halten. Es ist eine Ausnahmezeit voller Katastrophen: Die Weltwirtschaftskrise, zwei heiße und ein kalter Krieg. Diese Katastrophen hatten einen Vorteil. Sie vernichteten weitgehend die Vermögen der Reichen und ermöglichten so eine Demokratie, in der Reiche und Arme nicht konfliktfrei, aber irgendwie in einer Welt lebten. Vor dem 1. Weltkrieg lebten Reich und Arm in verschiedenen Welten und bald wird das wieder so sein. 1914 erhielten die obersten 10 % Europas ~ 47 % des Sozialprodukts, fallen bis 1980 auf 29 % und steigen bis heute wieder auf 35 % (USA 47 %). Bei dieser Polarisierung kann Demokratie nur als Fassade bestehen, denn wirtschaftliche Kräfte diktieren die Politik. Die Rückkehr zur unvermeidlich scheinenden Normalität wird nur durch ein politisches Betriebssystem verhindert, das Staat und Wirtschaft trennt. Das sah Solon als seine Aufgabe, als er Athen vor einem Bürgerkrieg zwischen landbesitzendem Adel und pachtzahlenden Bauern rettete. Beide Parteien sollten sich als „Athener“ fühlen. Und aus seinen Anfängen entwickelte sich ein politisch stabiles System, das zwei Jahrhunderte Wohlstand und Kultur brachte. Ohne ein Betriebssystem, das ein Zusammenleben von Reich und Arm ermöglicht, brauchen wir neue Kriege und Krisen, um den Reichtum der Minderheit wieder drastisch zu schmälern und die Demokratie zu retten. Oder wir leben mit einer hohlen Demokratie. Vor dem Zerfall der Sowjetunion – die sich nicht so verschulden konnte wie die USA – zwang die Gefahr aus dem Osten die Eliten zu zivilem Verhalten gegenüber den Bürgern. Jetzt kann nur eine Basisdemokratie ihre Freiheit begrenzen.

Chancen und Möglichkeiten

Der Vorteil der Piraten ist, dass viele im Netz zu Hause sind, wo autoritäre Systeme, der Unterschied von reich/arm, weiblich/männlich, schwarz/weiß/bunt oder alt/jung unbekannt sind. Wirtschaftlich und kulturell ist das gleichberechtigte Miteinander und Füreinander im Netz ein Erfolg. Diese Effizienz auf die reale Welt zu übertragen ist die ursprüngliche Agenda der Piraten. Sie war so selbstverständlich, dass keinem einfiel, sie ins Programm zu schreiben.

Die Übertragung einer Idee oder Theorie, die auf einem Feld erfolgreich ist, auf ein anderes Feld ist der übliche Weg wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts. Wissenschaftlicher Fortschritt wurde lange als lineare Entwicklung zur Wahrheit gesehen, zur Kenntnis der Baupläne der Welt, die der Schöpfer in seinen Schubladen hat. Für Thomas Kuhn (Die Struktur wissenschaftlicher Theorien, 1962) waren dies logische Glasperlenspiele und empirisch falsch. Es gibt keine objektive Wahrheit. Wenn die herrschende Theorie ein bestimmtes Problem nur durch komplizierte Zusatzannahmen erklären kann, kommen Neueinsteiger, nicht die alten Hasen und daher meist junge Leute, und finden eine einfachere, aber völlig andere Erklärung. Wenn diese erfolgreich ist, wird sie auf weitere Felder übertragen. Das neue Paradigma beginnt!

Fortschritt ist nicht linear, es ist der Wechsel von inkommensurablen, unvergleichbaren Paradigmen. Ein Paradigmenwechsel ist „picking up the other end of the stick“ oder „Was in der wissenschaftlichen Welt vor der Revolution Enten waren, sind danach Kaninchen. Wer vorher das Äußere einer Kiste von oben sah, sieht danach das Innere von unten“. Man schaut das gleiche und sieht was anderes. Da jedes Paradigma den Inhalt seiner Begriffe anders definiert, ist zwischen Paradigmen das Ideal eines rationalen Diskurses mangels neutraler Sprache unmöglich. Einigt man sich auf eine Formulierung, „einigt“ man sich auf unterschiedliche Inhalte. Jeder Wissenschaftler betont, was seine Theorie kann und die andere nicht kann. Da die andere Theorie anders ist, hat jeder Recht, denn im Vergleich zur eigenen ist die andere immer schlechter. Der nicht-lineare Fortschritt der Wissenschaft, hat seine Parallele im gesellschaftlichen Fortschritt (und in Grenzen in der Biologie – Mutationen). Thomas Kuhn schreibt: „Politische Revolutionen [Paradigmenwechsel] werden durch ein wachsendes, doch oft auf einen Teil der Gesellschaft beschränktes Gefühl eingeleitet, dass die existierenden Institutionen aufgehört haben, den Problemen ... gerecht zu werden. ... Bei der politischen und wissenschaftlichen Entwicklung ist das Gefühl des Nichtfunktionierens, das zu einer Krise führen kann, eine Voraussetzung für die Revolution. ... Anfangs ist es nur die Krise, welche die Rolle der politischen Institutionen schmälert ... Eine wachsende Anzahl von Menschen wird in wachsendem Maß dem politischen Leben entfremdet und verhält sich mehr und mehr exzentrisch. Wenn sich die Krise dann vertieft, verschreiben sich viele dieser Menschen irgendeinem konkreten Programm für die Erneuerung der Gesellschaft in einem neuen institutionellen Rahmen. ... An diesem Punkt teilt sich die Gesellschaft in einander bekämpfende Lager oder Parteien, von denen die eine die alte institutionelle Konstellation zu verteidigen sucht, während die andere eine neue zu errichten trachtet. Und wenn diese Polarisierung einmal eingetreten ist, versagt die eigentliche politische Auseinandersetzung.“

Sollte diese Sicht gesellschaftlichen Fortschritts zutreffen, ergibt sich für die Piraten: Da Stammwähler der Parteien eine hohe Markentreue haben, können Piraten nur auf „Nicht-Wähler“ setzen, die eigentlich „Wähler auf Urlaub“ sind, die wählen würden, gäbe es eine Partei, die einen neuen institutionellen Rahmen anstrebt. Bestehende Strukturen zu verbessern ist löblich, politisch aber sinnlos, da dies Nichtwähler kalt lässt. Zukunft ist für sie keine verbesserte Version des Heutigen, sondern ein anderes politisches Betriebssystem. Die Piraten könnten dies anbieten, die Übertragung der Struktur des Netzes auf die Realwelt. Sie verschleißen sich aber in der Verbesserung des Bestehenden.

Altgriechische Philosophie zum Vergleich

Platon, Aristoteles, Athens Eliten, lehnten die Attische Pöbeldemokratie ab. In der Volksversammlung und bei der Besetzung der Ämter – jeder 20. Bürger Athens hatte ein Amt – waren die Ärmeren die Mehrheit, denn alle erhielten Diäten. Nach Platon sollten nur Philosophen Könige werden, solche wie er. Für Aristoteles muss irgendwas über dem Volk stehen – das Gesetz - und der Macht des Volkes entzogen sein. Er nannte es Politie. Demokratie, Volksherrschaft, ist für ihn Tyrannis, weil derjenige, der herrscht – das Volk – kein „Gesetz“ über sich hat. Die Bundeszentrale für politische Bildung verkauft die Politie als Demokratie und verteilt den Schulen kostenlos anti-demokratische Propaganda. Es gibt somit seit der Antike zwei sich ausschließende Herrschaftssysteme – sieht man von denen ab, die „von Gottes Gnaden“ regieren: Die Elitendemokratie, die Herrschaft der „Besten“, und die peuble- – pardon –Pöbeldemokratie, die Herrschaft der Nicht-Besten. Dass die Aristokratie, die „Besten“, regieren sollen, das ist nicht notwendig der Adel, war ur-griechisches Denken. Auf seinem Totenbett befragt, wer sein Reich erben soll, war Alexanders selbstverständliche Antwort: Die Besten. Auch in Athen strebte niemand eine Demokratie an. Das Ziel war Gleichheit. Wer im Krieg sein Leben einsetzt, beansprucht gleiche Bürgerrechte. Da Athen Seemacht wurde und die Ärmsten die Ruder bedienten – eine Rüstung konnten sie sich nicht leisten – erhielten sie Bürgerrechte. Athens Basisdemokratie war für die Eliten ein historisch einmaliger Unfall, denn für Triemen braucht man viele Ruderer. Einmal erreicht, war die Demokratie der Stolz aller Athener und Geschichte wurde umgeschrieben, so als hätte man Demokratie schon immer geplant.

Nach Aristoteles ist Demokratie „regieren und regiert werden“. Es ist nicht nur ein Abstimmungsmodus, sondern eine Kultur, in der jeder Bürger zuweilen regiert, um dann wieder regiert zu werden. Damit nicht nur die Hübschen, die Redseligen und Einflussreichen regieren, wurden Ämter durch Los vergeben. Für jedes Amt wurde immer eine Gruppe gewählt, in der alle „Stämme“ vertreten waren, denn Einzelentscheidungen von „Spezialisten“ und „Eliten“ gab es nicht. Selbst der demokratie-kritische Aristoteles („Summierungsthese“) gesteht, dass das Ergebnis basisdemokratischer Entscheidungen höherwertiger sein kann als das von Eliten. Voraussetzung ist eine sachgerechte Diskussion und Entscheidung ohne den Einfluss parteilicher und verwandtschaftlicher Interessen. Attika war daher in „Stämme“ aufgeteilt und jeder „Stamm“ bestand aus Nachbarschaften (demos) der Fischer, der Bauern des Inneren und der Städter. Jeder Stamm war ein verkleinertes Abbild des Staates und zwischen den „Stämmen“ bestanden keine politischen Unterschiede.

In der Volksversammlung gab es angesehene Volksführer – „Demagoge“ war ihr Ehrentitel – meist aus dem Adel oder der Mittelschicht. Anders als heutige Politiker wurden sie für schlechte Ratschläge zur Rechenschaft gezogen. Und es gab fatale Fehlentscheidungen der Volksversammlung. Aber durch die Einbindung des Volkes in die Verwaltung und als Gesetzgeber entstand ein Kraftpotential, das Athen wirtschaftlich, kulturell und sozial alle Nachbarn übertreffen ließ.

Viele piratische Nerds haben nie etwas über die attische Demokratie gehört. Sie haben ein ähnliches System aber gelebt. In Flächenstaaten ist eine Volksversammlung wie die Athens unmöglich. Das Netz macht es möglich. Parlamente, in denen Repräsentanten bestimmte Bürger vertreten, werden damit zum Anachronismus. Bürger können selbst bestimmen, ohne die Hilfe korrumpierbarer Repräsentanten. Heute wie in Athen stehen zur Wahl: Eine Elitendemokratie oder eine (digital gestützte) Pöbeldemokratie. Piraten müssen sich entscheiden: Wollen sie löblicherweise die Verbesserung des bestehenden Paradigmas, der Elitendemokratie, oder entwickeln sie die Alternative des Netzes für die Realgesellschaft. Entweder bleiben sie politisch bedeutungslos oder sie gewinnen für ihr Betriebssystem die Nicht-Wähler zurück in die Demokratie.

Basisdemokratie?

Basisdemokratie ist eine politische Kultur, nicht nur Abstimmungsmodus über Sachfragen. Um Bürger in alle Entscheidungen einzubinden und mitregieren zu lassen, müssen die auf eine Elitendemokratie zugeschnittenen Institutionen umgestrickt werden. Warum berät der Elternbeirat den Schuldirektor und nicht der Schuldirektor den Elternbeirat. Auf den Kopf gestellt funktioniert alles wohl besser. Der Diskurs zwischen Eliten- und Pöbeldemokraten über die beste Form ist wie üblich ein Diskurs zwischen Tauben: Die Elitedemokraten sprechen dem dummen Volk – sie formulieren es höflicher – die Fähigkeit ab, über komplexe Zusammenhänge zu entscheiden. Dazu müsste das Volk die Bildung haben, die sie selbst zu besitzen behaupten. Auch darf das Volk nicht demagogischen Volksverführern erliegen, die sie, die Eliten, durchschauen. Basisdemokratie wird damit ins Jenseits verschoben.

Das Volk, der Pöbel, sieht, dass die Eliten mit ihrer Bildung auch die Vorurteile gegen das Volk aufsaugen. Dass die Eliten keine Schwierigkeiten haben, ihr Eigeninteresse als Gemeinwohl darzustellen. Und sollte das Volk die Notwendigkeiten nicht einsehen, müssen Militärdiktaturen das Gemeinwohl schützen.

Die Eliten – nicht das Volk – hat Hitler ermöglicht, die Demokratie abzuschaffen. Wenn Parlamentarismus Demokratie ist, dann regierte Hitler demokratisch. Die notwendige Zweidrittel-Mehrheit für das Ermächtigungsgesetz zur Abschaffung der Demokratie erhielt Hitler durch konservativ-christliche Parteien. Es schützte gegen sozialdemokratische und kommunistische Elemente und Hitler sollte mit KZs ihre Erwartungen übertreffen. Ein Steigbügelhalter Hitlers, Theodor Heuss, warnte noch in den Beratungen des Grundgesetzes vor dem Volk als einem „bissigen Hund“. Im Grundgesetz sind daher Volksbegehren nicht vorgesehen. Heuss‘ Votum für Hitler war nicht widerwärtig, sondern gemäß der Bundeszentrale für politische Bildung nur „widerwillig“. Helene Wessel (Zentrum) war mehr Mann als Heuss und stimmte gegen den Koalitionsbeschluss und gegen Hitler – gemäß eigenen Angaben.

Die basisdemokratische Tradition Athens war historischer Zufall – ein Glücksfall für die Menschheit. Das Netz bietet heute die Möglichkeit, diesen Glücksfall zu wiederholen. Doch damals wie heute ist für Eliten unvorstellbar, dass sie verzichtbar sind. Und auch unter Piraten fühlen sich viele als Eliten. Wenn die Bundeszentrale für politische Bildung das zunehmende Unverständnis der Bürger beklagt zu begreifen, wie gut unsere Demokratie funktioniere, dann spricht sie von Wählern, die ein anderes Betriebssystem suchen. Wenn Piraten dieses Potential nicht ausschöpfen, haben sie keine Wähler. Vorzugehen ist wie bei allen Paradigmenwechseln: Nicht Worte und Programme sind wichtig, sondern eine erfolgreiche basisdemokratische Praxis der eigenen Organisation, die zeigt, dass dieses Betriebssystem auf andere Bereiche übertragbar ist.