NRW:Arbeitskreis/Bildungspolitik/Gedanken
Inhaltsverzeichnis
- 1 Gedanken zum Bildungsprogramm der NRW-Piraten für die Landtagswahl 2010
- 1.1 Einleitung
- 1.2 Bestandsaufnahme mit Polemik
- 1.3 Die sechs Kerne des Bildungsprogramms der NRW-Piraten
- 1.4 Kern 1: Das Bildungssystem liegt in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung.
- 1.5 Kern 2: Gute Bildung benötigt individuelle Förderung
- 1.6 Kern 3: Die Vermittlung guter Bildung benötigt die Kultur einer Solidargemeinschaft.
- 1.7 Kern 4: Gute Bildung benötigt Autonomie und Entscheidungsfreiheit bezogen auf die zu lernenden Inhalte.
- 1.8 Kern 5: Lernen zu Lernen, das Erlernen von Methoden und Kompetenzen hat im Vordergrund zu stehen.
- 1.9 Kern 6: Navigation im Netz, Netzwerkmanagement
- 1.10 Einzelnachweise
Gedanken zum Bildungsprogramm der NRW-Piraten für die Landtagswahl 2010
von Joachim Paul aka Ergonaut
Beitrag für die Piratenzeitung, Ausgabe 2010/2, noch nicht erschienen
Einleitung
"Schreib’ doch mal was für die Piratenzeitung zum Bildungsprogramm, du bist doch im Arbeitskreis und hast da mitgemacht. So als Vision, so wie wir uns vorstellen, wie das z.B. in 20 Jahren aussehen soll?" --- "OK, wie lang?" Egal, erstmal anfangen. Und wo einsteigen? Es gibt 1001 Möglichkeiten und mindestens doppelt soviele Fallstricke. Hier gleich der vielleicht wichtigste Hinweis:
Die Kunst, sachlich über Bildung und Bildungspolitik zu schreiben, besteht darin, die Wut im eigenen Bauch nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Denn Wut formuliert schlecht. Na ja, vielleicht kann man Wut auch portionsweise ablassen? So quasi als Treibstoffzusatz? Wo war ich, ach ja, der Einstieg, vielleicht geht’s ja so:
"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Dieses Zitat unseres Altbundeskanzlers Helmut Schmidt skizziert seine ureigene Sichtweise einer pragmatisch ausgerichteten Politik. Eine wirklich pragmatische Politik im Bildungssektor muss allerdings ganz anders aussehen. Hier kann Herrn Schmidt mit Kurt Weidemann entgegenhalten werden: "Ein Designer ohne Visionen ist kein Realist."[1]
Denn Politiker sind Designer oder sollten es vielmehr sein, Designer und Gestalter für unser Zusammenleben, und das umso mehr, je mehr sie in Entscheidungsverantwortung stehen. In Bezug auf den Bildungssektor besteht ihre Aufgabe eben nicht darin, selbst pädagogisch tätig zu sein, etwa im Sinne einer gesellschaftlichen Erziehung - gleichermaßen sozialdemokratische Unsitte wie frommer Wunschtraum -, sondern vielmehr, gute Pädagogik erst möglich zu machen.
Setzen wir einmal voraus, wir wüssten, was gute Pädagogik ist, dann hat sich die Politik in dieser Hinsicht - und zwar völlig unabhängig von ihren jeweiligen parteipolitischen Ausrichtungen - in den letzten 20 Jahren in der Bundesrepublik an der Gesellschaft und insbesondere an unseren Kindern schwer schuldig gemacht. Schuldig macht man sich immer dann, wenn man um das Mögliche weiß, es jedoch als unmöglich hinstellt.
Bestandsaufnahme mit Polemik
a) .... in Sachen Schule ....
Während andere westliche Industrienationen begannen, funktionsfähige integrierte Bildungssysteme aufzubauen, wurde diese Entwicklung in Deutschland verpasst, zum einen durch Aussitzenwollen und der Angst, Altvorderes, ach so Bewährtes anzufassen, geschweige denn zu ändern, zum anderen schlicht durch Verschlafen. Das bittere Erwachen kam dann mit dem PISA-Schock. Dabei hat es – schon vorher - an warnenden Stimmen, etwa aus dem akademischen Bereich, nicht gefehlt. Und der gegenüber anderen Ländern viel zu niedrige BIP-Prozentsatz[2] der Investitionen ins Bildungssystem trug ein Übriges dazu bei, das auch das Altbewährte allmählich verfiel. Bei einem Tag der offenen Tür an meinem alten Gymnasium konnte ich mich selbst unlängst davon überzeugen, dass z.B. die Ausstattung der Physiksammlung immer noch aus denselben Gerätschaften bestand, die zur Zeit meines Abiturs 1976 im Einsatz waren, mit dem Unterschied, dass mehr als die Hälfte der Geräte inzwischen entweder defekt oder völlig unbrauchbar geworden war.
Aber eine defekte oder unvollständige Schulausstattung ist nur eine Seite der Medaille. Deutschland ist unter den führenden Wirtschaftsnationen das Land, in dem die soziale Herkunft mehr als in allen anderen Ländern über den späteren Bildungs- und Berufsweg entscheidet. Wie war das doch gleich? Zugang zu Bildung ist Menschenrecht. Außenpolitisch insistiert Deutschland dauernd auf die Menschenrechte. Peinlich, oder?
Im Anschluss an den PISA-Schock wurde in vielen Bundesländern versucht, durch "Sofortprogramme" das Problem in Angriff zu nehmen, bzw. der Eindruck zu erwecken, man täte etwas. Umso schlimmer, dass viele Politiker an die Sinnhaftigkeit ihrer Maßnahmen glaubten sowie an ihre allein selig machenden Kompetenzen. Da gab es nur selten runde Tische mit Fachleuten aus dem Management - auch Schule ist eine Managementaufgabe! - oder dem universitären Bereich. Wir schaffen das schon. Die meisten im Ministerium sind sowieso Lehrerinnen und Lehrer von Beruf, die kennen sich doch aus!
Immer getreu dem Motto "Operative Hektik ersetzt geistige Windstille". Nahezu alle Aktionen liessen die gebotene strategische Weitsicht vermissen. Und diejenigen Maßnahmen, auf die eben jenes Attribut der fehlenden Weitsicht nicht zutraf, gingen im parteipolitischen Ränkespiel unter oder wurden in der Föderalismusdebatte zerrieben. Ein Sofortprogramm ist eben ein Sofortprogramm. Kitten wir mal das Loch im Reifen, vielleicht tut er's noch 'ne Weile, wenigstens bis zur nächsten Wahl.
Bildungspolitik ist so wichtig, wie sie bei vielen Politikern unbeliebt ist. Denn man kann mit ihr eben nicht innerhalb derselben Legislaturperiode beim Wähler punkten. Vielleicht mit ein Grund, warum sich beim letzen Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen von Steinbrück-Rot-Grün zu Rüttgers-Schwarz-Gelb die Leistung-muss-sich-wieder-lohnen-Partei FDP nicht um das Schulministerium riss, man wusste, dort gibt’s richtig Arbeit! Halten wir fest, gar vieles ist Sache der FDP, Arbeit gehört offensichtlich nicht dazu.
.... und b) in Sachen Hochschule ....
Im Hochschulbereich wurden die Bologna-Beschlüsse mehr schlecht als recht umgesetzt mit dem Resultat, dass angestrebte Flexibilität und "Interoperabilität" der Studiensysteme in Europa im Zusammenwirken mit den neuen Studiengebühren dazu führt, dass sich noch weniger Studierende für ein Auslandssemester entscheiden als bisher. Es wurde also genau das Gegenteil von dem erreicht, wofür der Bologna-Prozess einst angetreten war. Überhaupt scheint die deutsche Bildungspolitik von einer seltsamen Glücklosigkeit befallen zu sein, die sich mittlerweile gepaart hat mit einer Politik des Schlechtredens der Konkurrenzfähigkeit deutscher Akademiker im internationalen Wettbewerb, die durch nichts gerechtfertigt ist. Nach wie vor werden speziell in den Naturwissenschaften deutsche Postdocs gerade in den USA sehr gern genommen. Ergo können die so schlecht nicht sein. Im Gegenteil, früher war es gleichgültig, ob ein Naturwissenschaftler oder Ingenieur von der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald, der Technischen Universität Dresden, der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen oder der Ludwig Maximilians-Universität München kam, man wusste, die Abschlüsse sind in Qualität und gelernten Inhalten vergleichbar.
Den strategischen wie stilistischen Gipfel der bildungspolitischen Niveaulosigkeit leistete sich die Bundesministerin für Bildung und Forschung im Kabinett Schröder, Frau Edelgard Bulmahn. Im Januar 2004 gab sie die Parole "Brain up - Deutschland sucht die Superuniversität" aus, mit dem Ziel, einige wenige deutsche Hochschulen nach US-Vorbild zu sogenannten Eliteuniversitäten auszubauen. Als wenn das US-amerikanische Hochschulsystem, das als Mix aus voll privat finanzierten und staatlichen Hochschulen mit dem deutschen so einfach zu vergleichen wäre. Dennoch, das wäre gerade noch zu verkraften gewesen. Jedoch wurden parallel zu den 50 Mio EUR Fördermitteln für die frisch ausgelobten Elite-Universitäten im Gegenzug erhebliche Mittelkürzungen für alle Hochschulen angekündigt.
Dementsprechend reagierten die Parteien der Opposition, hier Union und FDP, seinerzeit mit dem Vorwurf der Halbherzigkeit.[3] Nach dem Regierungswechsel 2005 schlug die Union andere Töne an und 2009 gratuliert sie im Konzert mit der FDP der frischgebackenen Elite-Uni Freie Universität Berlin. Hieraus ergibt sich klar und deutlich, was ein bildungspolitischer Standpunkt einer etablierten Partei heutzutage wert ist, nämlich keinen Pfifferling. Konzeptlosigkeit lässt sich nicht länger kaschieren.
Gegenwärtig, so scheint es, kassieren die etablierten Parteien die Rechnung für ihre Hochschulpolitik, eine landauf, landab sehr wütende Studierendenschaft, die sich anschickt, sich mit den ebenfalls unzufriedenen Hochschullehrern zu verbünden. Bewundernswert und erstaunlich ist die Tatsache, das die Studierenden über dem ganzen bildungspolitischen Elend ihren Humor noch nicht verloren haben. "Adornos Dialektik verträgt keine Hektik" war unlängst auf einen Spruchband in einem Hörsaal der Universität Duisburg Essen zu lesen. Recht so. Und was für Adornos Dialektik gilt, gilt ebenso für Quantenfeldtheorie, Topologie oder Molekulargenetik. Sich Wissen Aneignen ist nicht gleichbedeutend mit Verstehen oder Durchdringen. Und letzteres ist mitnichten Frage des Tempos, mit dem durch den Lernstoff galoppiert wird.
Die Zukunft wird in der Bildungspolitik gewonnen - oder verloren. Hierüber scheinen sich auch alle einig zu sein. Jedoch muss dann die Frage erlaubt sein, warum insbesondere in Deutschland die etablierten Parteien die Beantwortung wichtiger Fragen zu Organisation, Ausrichtung und "Freiheit" der Hochschulen einer lobbygetriebenen Stiftung wie der Bertelsmann-Stiftung überlassen, die - und das ist ihr grundsätzliches Interesse - optiert auf eine Anpassung der Studiengänge sowohl in Struktur als auch Inhalt an aktuelle wirtschaftliche Bedarfe. Das ist alles andere als zukunftsfähig!
Um es ganz klar und unmissverständlich zu sagen, mit den Piraten ist so etwas nicht zu machen! Vielmehr würde die Partei zu runden Tischen einladen, um alle Beteiligten und nicht nur bestimmte Interessengruppen in die notwendigen Veränderungsprozesse hineinzuholen.
Bildung bedeutet im Hochschulsektor auch Autonomie. Die aktuelle Hochschulpolitik, die für die Hochschulen einen von Lobbyinteressen gesteuerten Kurs vorgibt, läuft einem jeglichen Bildungsanspruch zuwider. Selbstverständlich hat auch eine Hochschul-autonomie ihre Grenzen, bzw. muss eine Hochschule sich ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft stellen. Das definiert die Hochschule als einen Bildungsknoten im Netz der Gesellschaft. Eine Optimierung der Balance zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen und eigenem Autonomiebestreben stellt eine genuine Aufgabe für die Piratenpartei dar. Sie ist bis jetzt die einzige, die die Netzwerkidee über rein technische Zusammenhänge hinaus ernsthaft als Element einer Kulturtechnik begreift.[4]
Die Frage nach der Hochschulautonomie ist allerdings kein ausschließlich deutsches Problem. In diesem Zusammenhang ist es unverdächtig, den renommierten Informatiker Edsger W. Dijkstra zu zitieren, der in deutlichen Worten sagt [5] (übers. J. Paul):
"Eine Universität, die sich verhüllt oder betrügt, kann ihre Türen schließen. Die essentielle Rolle von Offenheit (Openness) ist etwas, an das man sich erinnern sollte, wenn es um akademisch-industrielle Kooperationen geht, und an das man sich ebenfalls erinnern sollte, wann immer eine Regierung Gründe der nationalen Sicherheit oder des Wohlstands erfindet für die Verhinderung freier Publikation der Resultate akademischer Forschung. Universitäten sind nicht Teil der nationalen Sicherheitsorganisation, sie sind nicht nationale Forschungslabore, sie sind vielmehr nationale Universitäten. En passant möchte ich erwähnen, dass in einem etwas anderen Sinn Offenheit (Openness) eine Vorbedingung ist für akademisches Überleben."
Nebenbei bemerkt stellt dies auch die piratische Forderung nach Open Access, dem freien Zugang zu Forschungsergebnissen für jeden Bürger in einen erweiterten Kontext. Darüber hinaus kann wer will in den Worten Dijkstras die alte Idee der Humboldt'schen Universitas wiederfinden, eine Idee, die von vielen Neoliberalen und Neokonservativen, allen voran Bundesbildungsministerin Annette Schavan, als veraltet und großbürgerlich diskriminiert wird. Hier ein Auszug einer Kritik der Bildungssendung von Anne Will vom 29.11.2009 mit Frau Schavan[6]:
Humboldt? Funktioniert nicht mehr, weil seine Bildungsideale für eine Zeit gedacht waren, in der nur ein Prozent eines Jahrgangs studierte. "Wir brauchen ein stärker strukturiertes Studium". Bachelor? Alles knorke, von kleinen Schönheitsfehlern abgesehen, und an denen sind die Hochschulen selber schuld, findet Schavan, die Diskussionsgegner so nett anlächeln kann wie der Wolf das Rotkäppchen - Großmutter, warum hast Du so breite Mundwinkel?
Wie dem auch sei, nicht nur Frau Ministerin Schavan belegt eindrucksvoll, wir haben in der Tat ein Bildungsproblem. Es zeigt sich zuerst bei der sogenannten politischen Elite.
Die Piratenpartei jedenfalls hat an dem Allgemeinbildungsanspruch des Humboldt’schen Bildungsideals sowie an den Gedanken der Einheit von Forschung und Lehre und der Freiheit der Lehre im Prinzip nichts auszusetzen, im Gegenteil, im Programm beruft man sich explizit auf die Humboldt’schen Vorstellungen. Sie sieht diese Ansprüche vielmehr durch eine ineffiziente Umsetzung des Bologna-Prozesses gefährdet.
Weiteres insbesondere zu den Enflüssen von Interessensgruppen wie der Bertelsmann Stiftung auf die Bildungspolitik kann nachgelesen werden bei Thomas Wieczorek[7] und auf den Nachdenkseiten von Albrecht Müller und Wolfgang Liebs[8].
Die sechs Kerne des Bildungsprogramms der NRW-Piraten
Ein System wie das Bildungssystem ist ein komplexes Gefüge innerhalb der Gesellschaft, das entsprechend sauber abgestimmte politische Maßnahmen zur Steuerung erfordert. Die Absicht, den Numerus Clausus im Fach Medizin abschaffen zu wollen, um den realen Mangel an z.B. Landärzten auszugleichen, mag ein für sich gesehen löbliches Unterfangen sein, es löst jedoch das grundsätzliche Problem nicht und taugt nur, die Hilflosigkeit der politischen Eliten und ihre blind aktionistische "Strategie" der bloßen Symptombekämpfung erneut zu dokumentieren. Seit den fünfziger Jahren weiß man aus der Kybernetik, dass Steuerungsprozesse die zu steuernden Prozesse an innerer Komplexität übersteigen müssen. Die Mitglieder der Piratenpartei behaupten keinesfalls, den Schlüssel für die Gestaltung solcher Prozesse zu haben, sie sind sich jedoch der Bedeutung von z.B. Ashby’s Law of Requisite Variety[9] für Steuerungs- und Managementprozesse bewusst und versuchen daher, ein systemorientiertes Programm auf den Weg zu bringen.
Jan Ulrich Hasecke, einer der Mitstreiter aus dem NRW Arbeitskreis Bildungspolitik, erläuterte und kommentierte bereits im Detail in seinem Blog "Juh’s Sudelbuch" die vier Säulen der Piratenbildung[10]. Diese sind erstens Kindergarten und Grundschule, zweitens die weiterführenden Schulen, drittens die Hochschulen und Berufsakademien und viertens die Erwachsenenbildung. Weitere Details dazu können dem Bildungsteil des Wahlprogramms selbst entnommen werden. Hier sollen diesen vier Säulen die inhaltlichen Kerne des Bildungsprogramms gegenüber gestellt werden.
Kern 1: Das Bildungssystem liegt in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung.
Es wird oft und zurecht nach den immensen Kosten bildungspolitischer Vorhaben gefragt, dabei wird fast immer vergessen, die Kosten einer verfehlten Bildungspolitik mit in die Rechnung zu nehmen. Diese sind allerdings nicht kalkulierbar, wir wissen nur, dass Fehler in der Bildungspolitik mit schöner Regelmäßigkeit und mit einem zeitlichen Verzug von einer halben bis einer ganzen Generation als ebenfalls immense Kosten in den Sozialsystemen wieder aufschlagen.
Die Frage, ob ein wenig an Bildung Interessierter mit seinen Steuergeldern die Ausbildung von Medizinern mittragen soll und ob es nicht besser sei, wenn der Medizinstudierende im Sinne einer finanziellen Verteilungsgerechtigkeit seine Studienkosten selbst trägt, demaskiert sich als populistisches Scheinargument, wenn man sich vor Augen führt, dass der Steuerzahler im Laufe seines Lebens von gut ausgebildeten Medizinern und einer guten Infrastruktur des Gesundheitssystems direkt profitiert. Bildung liegt in der Verantwortung aller, in der Verantwortung der Gemeinschaft, daher sollen auch alle dafür zahlen. Mit "Alle" ist also naturgemäß der Staat gemeint.
Dies gilt auch - neben den Fachausbildungen - für eine gute Allgemeinbildung. Diese kommt auch der inneren Sicherheit zugute, denn Bildung schützt vor der Anfälligkeit gegenüber politischen und religiösen Extremismen. Und sich aktiv allgemein zu bilden, darf nicht mit dem Ende der Schulzeit aufhören. Die Studierenden auch der natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächer müssen die Gelegenheit haben, ihren Adorno, ihren Heidegger, ihren Dennett oder ihren Goethe zu lesen, wenn sie dies wollen, jenseits aller Normierungsbestrebungen für die Studiengänge. Die rein effizienzgetriebene falsche Umsetzung des Bachelor-Master-Systems schädigt die Möglichkeiten zur allgemeinen Bildung direkt.
Einer grundlegenden Reform des Schulsystems hat eine Beendigung der den Streit um unser Schulsystem zugrunde liegenden ideologischen Grabenkämpfe vorauszugehen. Unser dreigliedriges Schulsystem ist überholt. Zwei Drittel der Industrieländer machen es anders und mit besseren Ergebnissen, wie es unlängst der Bildungsökonom Ludger Wößmann in der neoliberalen! Wirtschaftswoche ausdrückte[11]. Und er steht damit nicht allein, aus dem akademischen Bereich werden ganz ähnliche Forderungen immer lauter.[12] Die Piraten stehen für das Anstreben eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses ein, der zudem alle am Bildungssystem beteiligten Gruppen und Fachkräfte mit einbeziehen muss.
Kern 2: Gute Bildung benötigt individuelle Förderung
Individuelle Förderung fängt bereits mit der frühkindlichen Bildung an. Dazu gehört auch, dass wir uns möglichst früh in die Lage versetzen, Defizite im Lernvermögen überhaupt zu erkennen. Darüber hinaus setzen die Piraten voll auf das Prinzip der Inklusion von Kindern, die einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen. Inklusion besagt, dass die Teilnahme an der Gemeinschaft ein Menschenrecht ist, das ausnahmslos für alle gilt. Inklusion wirklich umzusetzen, ist alles andere als einfach. Dessen sind sich die Piraten bewusst. Man wird nicht auf einen Schlag und per Erlass alle Förderschulen abschaffen können. Entscheidend ist jedoch, dass konsequent begonnen wird, den Weg der Inklusion zu beschreiten. Im Verlauf der Umsetzung wird sichtbar werden, was alles möglich ist und wo weiterhin Sonderlösungen bereitzuhalten sind.
Nicht nur in diesem Zusammenhang ist eine ganz grundlegende Forderung die nach kleineren Klassen! Neben kleineren Klassen müssen auch neuere Sozialformen des Unterrichts etabliert werden, so z.B. die Arbeit in Kleingruppen, Partnerarbeit, Einzelarbeit, usw. Dies erfordert darüber hinaus den Einsatz von IT in den Schulen. Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass sich in den Kontexten der Unterrichtsformen und des IT-Einsatzes schon Einiges getan hat.
Neurophysiologie und Hirnforschung haben eindrucksvoll bestätigt, was schon Psychologen des 19. Jahrhunderts bekannt war. Es gibt unterschiedliche Lerntypen.
Die Mathematiker Davis und Hersh schreiben hierzu in ihrem Werk "Erfahrung Mathematik"[13]:
"Es ist unbestritten, daß sich die Menschen in dem, was man ihren "Erkenntnis-Stil", ihren angeborenen Denkmodus, nennen könnte, dramatisch voneinander unterscheiden. [....] 1880 bat Galton eine breit gefaßte Bevölkerungsgruppe, ihm "zu beschreiben, wie sie vor ihrem geistigen Auge ihren Frühstückstisch an einem bestimmten Morgen sehen". Er fand, dass die einen lebhafte und präzise Schilderungen gaben, während andere nur verschwommene oder in einigen Fällen sogar überhaupt keine Bilder sehen konnten. William James berichtet, dass das Sinnesorgan, das als Medium für den Denkvorgang dient, von Mensch zu Mensch anders sein kann, wobei allerdings das Gehör und das Auge überwiegen. Eine kleine Gruppe war jedoch stark vom Tast- oder Bewegungsgefühl beeinflußt, und dies auch im sogenannten abstrakten Denken. Diese Verschiedenheit der Denkensweisen sollte eigentlich keine Probleme verursachen, ja die verschiedenartigen Methoden, deren sich unsere Spezies bedient, um über die Welt nachzudenken, sollten uns Vergnügen bereiten, sie sollten uns alle als legitime Zugangswege zu Problemen wert sein. Leider ist Toleranz eine seltene Tugend, und häufig reagiert man auf eine andere Art zu denken, indem man zuerst einmal bestreitet, daß es überhaupt möglich ist, so zu denken, und zweitens, daß es etwas taugt. William James bemerkt hierzu: "Für einen Menschen mit starker visueller Imagination ist es schwierig zu begreifen, wie man ohne diese Fähigkeit überhaupt denken kann." Umgekehrt sind manche, die hauptsächlich verbal denken, buchstäblich unfähig, sich auszumalen, wie ein nicht auf Sprache beruhendes Denken vor sich geht."
Lehrerinnen und Lehrer müssen in die Lage versetzt werden, diese Lerntypen zu erkennen, um sich dann entsprechend darauf einstellen zu können.
Aber die klassische Schule ist eine Erfindung der Buchdruckkultur und damit linkshirnlastig. Wir glauben zu wissen, was passiert ist, wenn jemand mit guten Leistungen in Deutsch oder in Fremdsprachen sein Abitur macht, aber geniale Mathematiker oder Musiker sind für uns immer noch ein Produkt von etwas, dass wir umschreibend "angeborenes Talent" nennen. Für die Altvorderen kam das Verständnis z.B. für Zahlen aus dem Tastsinn. So schlussfolgern Davis und Hersh in ihrem Werk:
"Es ist ein vernünftiger Schluß, daß eine mathematische Kultur, welche die räumlichen, visuellen, kinästhetischen und nichtverbalen Aspekte unseres Denkens ausdrücklich herunterspielt, sich damit den Weg verbaut, die Möglichkeiten des Gehirns voll auszuschöpfen."[14]
Das können wir angesichts der zunehmend komplexer werdenden Zusammenhänge in Gesellschaft und Umwelt im Zeitalter der Globalisierung nicht ernstlich wollen.
Individuelle Förderung bedeutet auch, dass die Schullaufbahn des Einzelnen flexibilisiert wird. Die NRW-Piraten haben dazu das Konzept der fließenden Schullaufbahn entwickelt, ein Kernpunkt des Wahlprogramms. Fließende Schullaufbahn heißt zunächst, dass auf starre Schemata und Raster verzichtet wird. Sitzenbleiben wird damit überflüssig. Jede Schülerin, jeder Schüler soll dem individuellen Leistungsniveau oder den Förderwünschen entsprechend Kurse belegen und diese ggf. einzeln wiederholen können. Die Piraten sind sich bewusst, dass eine Umsetzung dieses Konzeptes alles andere ist, als ein logistischer Pappenstiel. Es gilt, damit erstmal anzufangen.
Kern 3: Die Vermittlung guter Bildung benötigt die Kultur einer Solidargemeinschaft.
Der Kern 3 ist einer der Gedanken hinter dem Absatz zu "Schulkultur" im Wahlprogramm der NRW-Piraten. Die frühneuzeitliche Idee der Schule des Johann Amos Comenius kann als abgeschlossener Raum zum Draußenhalten von Welt begriffen werden. Sie lässt sich abbilden auf den generellen Kulturraum, in dem der Nachwuchs im Sinne von schole, Muße, aufwachsen kann. Wie sähe ein zeitgemäßes mögliches Modell einer "Bildungsstation" für Jugendliche aus? Ist es immer noch notwendig, Welt draußen zu halten? Mit Sicherheit nicht. Jedoch stellen sich heute Schulen vielfach dar als Inseln, in denen unsere Kinder auf ein Leben außerhalb der Insel vorbereitet werden. Das Paradoxe ist, diejenigen, die unsere Kinder darauf vorbereiten, sind selbst Bewohner der Insel. Schulen - als Lebenslabore, als Orte der Kreativität, des Lernens und des Spiels, müssen sich öffnen, um Knoten im Netz werden zu können. Hierzu ist es notwendig, Lehrkräfte aus der Schule zu holen und Leute außerhalb der Schule in sie hineinzubringen. Dies kann beginnen mit einer effizienten Organisation der berufsbegleitenden Lehrerfortbildung, in die auch außerschulische Fortbildner integriert werden. Bis dato ist Lehrerfortbildung eine fast reine Inzucht-Veranstaltung, Lehrkräfte bilden Lehrkräfte fort. Das ist zu wenig. Öffnung von Schule meint ausdrücklich nicht, dass nun vermehrt Neocon-Marktwirtschaftsapologeten in die Schule einfallen sollen, um ihre Bedarfe zu predigen, vielmehr ist eine Präsenz aller gesellschaftlich relevanten Bereiche in Schule notwendig. Ein Grund mehr, dies keinesfalls der Bertelsmann-Stiftung oder ähnlichen Vertretern irgendeiner Lobby zu überlassen. Für die sollte gelten: Hände weg von unseren Kindern!
Schulkultur meint auch, in Schulen eine Umgebung zu schaffen, in der gerne gelernt wird. Das hört sich trivial an, ist jedoch angesichts der Trostlosigkeit in vielen unserer Bildungsstätten für Kinder ein vordringliches Problem. Es gilt, die Eltern und zusätzliche außerschulische Angebote mit in die Gestaltung von Schule hineinzunehmen, um so zu einer gelebten Kultur des Miteinander zu kommen.
Ein Beispiel soll verdeutlichen, wie sich solche Kooperationen direkt in den Lernerfolg hinein auswirken können. An einem Düsseldorfer Gymnasium stellte sich ein Kunstlehrer mit seinen Schülern dem Problem der Vermittlung von auf uns heute fremd wirkenden geschichtlichen Zeiten auf folgende Weise. Es ging um das Leben der Menschen im Europa des 17. Jahrhunderts. Er bediente sich aus dem Theaterfundus der Schule und stellte mit den Schülerinnen und Schülern Portraitgemälde des 17. Jahrhunderts nach. Die Ergebnisse wurden fotografisch festgehalten. Das ist kreativer Unterricht! Neben Gestaltendem und gemeinsamem Tun kam auch die Reflexion zum Zuge, das Sich-hinein-Versetzen in Andere - sogar über zeitliche Grenzen hinweg. Natürlich setzt so ein Unterrichtsprojekt voraus, dass die Schule überhaupt Zugang zu einem Theaterfundus hat. Hier sind Eltern und Verbände aktiv gefragt.
Und der einflussreiche kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan erzählt ein Beispiel zu Schulkultur, das ebenso in den vorigen Absatz gepasst hätte, da es unmittelbar mit den vorherrschenden Sinnesmodalitäten zu tun hat und die Lernenden in einem fördernden Sinn dort abholt, wo sie sich befinden[15]:
"Die Geschichte des Spiegels ist eines der wichtigsten Kapitel in der Geschichte der Kleidung und der Sitten und der Ich-Werdung. Kürzlich gab ein findiger Schuldirektor in einem Elendsviertel in der Schule jedem Schüler seine eigene Fotografie. In den Massenzimmern der Schule wurden viele große Spiegel angebracht. Das Ergebnis war eine erstaunliche Steigerung der Lernleistung. Das Kind des Elendsviertels ist gewöhnlich in sehr geringem Maße visuell orientiert. Es sieht nicht, wie es selber etwas wird. Es faßt nicht Fernziele und Pläne ins Auge. Es ist zutiefst in seinem eigenen Alltagsleben verhaftet und kann keinen Brückenkopf im hochspezialisierten Sinnesleben des Augenmenschen errichten."
Leider ist nicht überliefert, um was für eine Schule es sich gehandelt hat. Jedenfalls spricht McLuhan die Benachteiligung der Schüler aus dem Viertel gegenüber Kindern aus Elternhäusern an, in denen die stärker visualisierende Buchkultur vorherrscht. Durch einen im Grunde simplen Kniff gelang es dem Schulleiter in dem Beispiel, für seine Schützlinge den Anschluss an die visuelle Kultur herzustellen. Schulen, an denen so etwas möglich ist, haben "Kultur" im von den NRW-Piraten gemeinten Sinn.
Kern 4: Gute Bildung benötigt Autonomie und Entscheidungsfreiheit bezogen auf die zu lernenden Inhalte.
Der den Piraten besonders wichtige Aspekt der Freiheit und der autonomen Entscheidung spielt auch in der Auswahl dessen eine Rolle, was ein Individuum lernen will. Entscheidungsfreiheit ist als Bestandteil der Identität einer Person selbst der individuellen Entwicklung unterworfen. Insofern gilt es schon in der Schule, den Nachwuchs behutsam an Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit heranzuführen. Dies kann nur eine Pädagogik leisten, die über die Mittel - auch im finanziellen Sinn - verfügt, entsprechend individuell zugeschnittene Angebote und Anregungen für die Lernenden bereitzustellen.
Unterricht im besten Sinne ist Entwicklungshilfe für menschliche Bewusstseine. Eine Kernaufgabe besteht darin, den Lernenden bei der Beantwortung ihrer dringlichsten Fragen - Wer bin ich? Was kann ich? Wer will ich sein? zu helfen und sie behutsam an die Ausprägung einer eigenen persönlichen Identität heranzuführen.
Kern 5: Lernen zu Lernen, das Erlernen von Methoden und Kompetenzen hat im Vordergrund zu stehen.
Setzte die Forderung des Comenius, "Alle sollen Alles lernen"[16] noch ein inhaltlich-dingliches Verständnis von Wissen sowie die Existenz eines durch das einzelne menschliche Subjekt fassbaren "Alles" voraus, so zeichnet sich schon beim Hegelschen Bildungsbegriff - "Unter Bildung versteht man das Vermögen, die Dinge vom Standpunkt eines anderen aus betrachten zu können."[17] - eine deutliche Verschiebung hin zu methodischen Aspekten ab, die zudem die Kommunikation zwischen Individuen und damit den kommunikativen Aspekt des Lernens in den Blick nehmen. Als einstweiliger historischer Abschluss dieser Entwicklung können letztlich auch die drei einleitenden und motivbildenden Fragen zur PISA-Studie verstanden werden[18]:
1. Sind Schülerinnen und Schüler gut vorbereitet für die Herausforderungen der Zukunft?
2. Sind sie in der Lage, ihre Ideen und Vorstellungen effektiv zu analysieren,
sie zu begründen und zu kommunizieren?
3. Verfügen sie über die notwendigen Kompetenzen für lebensbegleitendes Lernen?
Diese Fragen können zudem auch als Problemstellungen systemtheoretisch-konstruktivistischer Prägung interpretiert werden, und zwar in doppelter Hinsicht, zum einen als mit ihnen - mit dem als "neben der Pädagogik stehenden"[19] und genuin als systemtheoretisch bezeichenbaren Vorgehen - die "institutionalisierten pädagogischen Systeme" der beteiligten Länder einer Performanzanalyse unterzogen werden, zum anderen inhaltlich, denn es sind in ihnen die Aspekte von Kommunikation und Autonomie implizit enthalten. Die Pisa-Studie war somit ein weiterer Ausdruck dafür, dass seit langem darum gerungen wird, wie ein vor allem problemorientierter Unterricht als "komplementäre Interaktion selbstreferentieller Subjekte"[20], so der systemtheoretische Sprachduktus, realisiert werden kann.
Machen wir uns nichts vor, das Pisa-Ergebnis ist ein Resultat der Differenz zwischen der realwirklichen Disposition außerhalb der Schule und der schulischen Disposition und ihrer Beziehung zur Wirklichkeit. Was getestet wurde, war nicht Wissen oder Intelligenz der Schüler, sondern die Intelligenz der Schule.
Seit einiger Zeit erfahren die schulischen Lehrpläne der Bundesländer eine Veränderung dahingehend, dass immer mehr methodische Aspekte Einzug halten. Das muss auch so sein in einer Zeit, in der ein Goethe unmöglich geworden ist, bzw., eine Person, die umfassend über das aktuelle Wissen der Welt verfügt. Umso mehr ist es notwendig, methodische Kompetenzen zu vermitteln. Dazu gehören Logik, das Denken in Strukturen und die Kompetenz, im weltweiten Informationsangebot sich die Inhalte herauszusuchen, die für einen jeweiligen Kontext relevant sind. Der Medienpädagoge Franz Josef Röll nennt dies "Pädagogik der Navigation"[21]. Er versteht darunter in einem spezielleren Sinn die Selbststeuerung des Lernens mit Hilfe von neuen Medien.
Die NRW-Piraten setzen in allen Belangen des Bildungssystems, egal ob schulisch oder im Bereich der Erwachsenenbildung, auf die Möglichkeit des Zugangs zum weltweiten Datennetz. Dies ist für jeden Lerner, unabhängig von Alter oder Herkunft, die Grundvoraussetzung dafür, an der Informations- und Wissensgesellschaft aktiv teilnehmen zu können.
Der von Vilém Flusser zuerst phänomenologisch beschriebene Netzdialog ist schon eine konfus anmutende Dialogform. Er ist raumzeitlich offen und nicht auf bestimmte Arten und Weisen verfasst, reglementiert oder institutionalisiert. Er ist demokratisch in einem ganz authentischen Sinn und erzeugt in kürzester Zeit eine Unmenge neuer Informationen[22]. Beispiele für klassische Netzdialoge sind Partys, Gerede, Plauderei, spontane Treffen, die Verbreitung von Gerüchten. Diese Kommunikationsstrukturen bilden das elementare Grundnetz aller menschlichen Kommunikation und damit von Gesellschaft überhaupt. Was diesen strukturellen Aspekt der Kommunikation gegenüber den artifiziellen Strukturen der reglementierten Diskurse und des moderierten Kreisdialogs besonders auszeichnet, ist die Tatsache, dass er die wirklich einzige Form für Informationsaustausch und Erzeugung ist, für die es nahe liegende strukturelle Analogien in der Natur gibt, genannt seien ökologische Netzwerke, Zellkonglomerate, Gehirne, Systeme aus Nervenzellen, und Weiteres mehr.
Bis vor nicht allzu langer Zeit war diese Kommunikationsform ebenso wie der moderierte Kreisdialog z.B. in einem Kabinett oder in einer Zeitungsredaktion an die physische Präsenz, an die direkte Begegnung der beteiligten Kommunikationspartner und damit an ein abgegrenztes Territorium gebunden. Erst die Möglichkeit der zeitversetzten Kommunikation über den Briefwechsel hat daraus raumzeitlich ausgedehnte Netze gemacht, deren Produkte, Bücher und Briefe wir heute studieren können[23]. Ein bekanntes Beispiel ist die gut dokumentierte schriftliche Kommunikation der Humanisten im ausgehenden 15. Jahrhundert. Das, was Erasmus von Rotterdam, Beatus Rhenanus und viele andere schufen, kann aus heutiger Sicht durchaus als richtiges "Wissensnetz" bezeichnet werden und bildete die Wurzel der wissenschaftlichen Kommunikationskultur von der Aufklärung bis in unsere heutige Zeit hinein. Thomas Jefferson und Alexander von Humboldt, Albert Einstein und Sigmund Freud sind nur zwei berühmtere Briefpartnerschaften in solchen Netzen. Sie wurden von den Intellektuellen der jeweiligen Zeiten gepflegt und mit Leben erfüllt. Die Ursprünge dieser etwas weniger spontanen und organisierteren Kultur des Netzdialogs reichen allerdings zurück bis zu den reisenden Mönchen und den Klöstern des frühen Mittelalters.
Und über die neue Technik des Internet erfahren diese Netzdialoge nun eine ungeheure Beschleunigung, mehr noch, neben textuellen Elementen können Informationen aller Art, Audiodateien, Computerprogramme, Grafiken, Bilder, Videosequenzen, usw. dialogisch ausgetauscht werden. Technische Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit des Internet sorgen zudem dafür, dass diskursive Formen - denkt man beispielsweise an die Internet-Aktivitäten der Fernsehsender - mit in die Netzdialoge hineingesogen werden. So ist hier ein multidimensionales Informationsspeicherungs- und Austausch-Feld im Entstehen begriffen, bei dem der geographische Bezug der daran teilhabenden Individuen nur einer unter vielen anderen ist, er ist in der Tat nicht mehr "ausgezeichnet". Für diskursive Elemente in diesem Feld haben wir nach wie vor die alleinige Verantwortlichkeit des Senders für die gesendeten Inhalte, jedoch für Dialogformen gilt und galt seit je her grundsätzlich und implizit, dass die Dialogpartner beide verantwortlich für Inhalte und Dialogprozess sind.
Jeder, der an diesen neuen raumgreifenden und zeitlich hoch verdichteten Netzdialogen teilnimmt, kann gleichzeitig Sender und Empfänger sein, und das nun - dank der weltumspannenden elektromagnetischen Netzwerke - weit jenseits der physischen Grenzen unserer Wahrnehmung. Auf die Email kann man sofort "antworten", oder auch nicht, der Empfänger einer Botschaft, der Surfer auf einer WebSite, ist also - anders als bei den Diskursen - "ver-antwort-lich"!
Und nun beginnen diese zusätzlichen Strukturen der geographisch ungebundenen, gewissermaßen "entorteten" elektronischen Netzdialoge sich mit den bisherigen lokalen Netzdialogen zu überlagern. Einige Apologeten des Cyberspace sprechen sogar - aufgrund der strukturellen Nähe zu Nervensystemen - vom Entstehen einer planetaren Intelligenz oder von kollektivem Bewusstsein[24][25]. Seit etwa 15 Jahren ist es geradezu "in", auch in Politik und Wirtschaft, in allen möglichen Belangen die Netzwerk-Metapher zu gebrauchen, ob sie passt oder nicht.
Parallel zum Aufkommen der Piratenpartei wurde begonnen, auch in breiteren Zusammenhängen nach der prinzipiellen Kontrollierbarkeit des weltweiten Datennetzes zu fragen.
Für die Politik selbst gilt nun, dass sie ihre Wurzeln in geographischer Territorialität und der aktiven Kontrolle verschiedenster Aspekte derselben hat. Netzdialoge, soweit wir das geschichtlich zurückverfolgen können, haben aber immer eine nicht-territoriale Komponente, die aus der Bewegung, aus der Tätigkeit des Reisens, oder - wenn man so will - aus unseren nomadischen Anteilen entsteht.
Und begreift man die durch das Internet umsichgreifende Entortung als eine Entterritorialisierung von Netzdialogen, dann wird die Frage nach der Kontrolle völlig obsolet. Dies findet sich nirgends besser bestätigt, als in der Äußerung eines US-Journalisten zu Multi-User-Dungeons: "Wenn jemand das Verhalten anderer kontrollieren möchte, wird er diese virtuellen Welten als extrem frustrierend empfinden."Morningstar, Chip; Electric Communications, Interview im Arte-Themenabend Internet, Straßburg 1996.
Für die Politik bleibt "nur" das, was verantwortungsvolle Politik schon immer getan hat, bzw. tun sollte, nämlich, die Netzdialoge und damit das Entstehen neuer Informationen zu ermöglichen, zu befördern und aktiv zu gestalten, sie in Form zu bringen, sie zu "informieren". In dieser Betrachtung entlarvt sich die totalitäre Unterdrückung der Netzdialoge als Verhinderung des Neuen und damit als ewige Wiederholung des Gleichen, als Demagogie. Die Aufgabe von Politik ist also grundsätzlich eine befördernde und moderierende für das Dialogische an sich, und damit auch eine pädagogische Einwirkung zu den Bedingungen der Möglichkeit von Mündigkeit und Verantwortung, denn der Dialog - das liegt in seinem Wesen - impliziert Verantwortung.
Gelingt die Überzeugung zur (Selbst-)Verantwortung im breiteren Stil, dann kann vielleicht mit der Transformation des Politischen selbst in das Netz begonnen werden. Denn ein weiterer Nebeneffekt der Medienexplosion und der entorteten Netzdialoge ist das Verschwinden des politischen Raums, des öffentlichen Raums, in dem die öffentlichen Sache, die res publica stattfindet.
Politik selbst - das liegt nicht nur in der Natur der Diskurse, über die Politik transportiert wird - lebt vom öffentlichen Raum, in dem Politik "geschieht". Dieser Raum ist aber der öffentliche Raum des Senders. Um Politik zu treiben, muss man sich in die Öffentlichkeit begeben bzw. Öffentlichkeit herstellen, senden, indem einer größeren Gruppe von Menschen eine bestimmte Information übermittelt wird. Öffentlichkeit und Privatheit entsprechen also - vereinfacht und im Bild des Diskurses gesprochen - Sender und Empfängern. Nun besitzen unsere privaten Wohnungen wie auch Schulen neben Türen und Fenstern - Durchlässen zum Öffentlichen an definierten Stellen - zunehmend Löcher in den Wänden, durch die reversible Kabel laufen, Telefon, Fernsehen, Internet, etc., mit denen wir zusätzlich mit der Außenwelt verbunden sind. Mit Hilfe dieser reversiblen Kabel werden wir zu Knoten in einem Netz, in einer Ansammlung von Netzdialogen. Und die Zunahme des Dialogischen lässt den eher diskursiven öffentlichen Raum des Politischen - wenige Agierende und viele Zuschauer - langsam schrumpfen. Der nächste Knoten in meiner persönlichen Ansammlung von Netzdialogen, derjenige, der mir nahe steht - und das jetzt nicht notwendigerweise im geographischen Sinn - wird wichtiger als das abstrakte Prinzip Menschheit, das nie direkt wahrnehmbar war. Exakt das ist es, was Vilém Flusser den "Tod des Humanismus" (als globales Prinzip) genannt hat [26]. Das Netz substituiert ein bislang nicht global gültiges Prinzip.
Auch eine andere Frage darf nicht unberücksichtigt bleiben. Wenn die Trennwand zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten durchlöchert oder weggezogen wird, hat dies natürlich auch Konsequenzen für das Private. Oder anders gewendet wird das Verschwinden von Öffentlichkeit durch eine parallele Veränderung des Privaten sowie der Wertschätzung des Privaten - und damit auch des Öffentlichen - begleitet. Es ist der historisch gewachsene Gegensatz zwischen "Privatheit" auf der einen und "Öffentlichkeit" auf der anderen Seite, der unsere diesbezüglichen Wertvorstellungen erzeugt und geprägt hat. Mit dem Verschwinden dieses Gegensatzes entsteht eine Art verunsicherndes Werte-Vakuum, von dem sich bis jetzt nur allgemein sagen lässt, dass es mit aus Dialogen entspringenden zwischenmenschlichen Relationen gefüllt werden kann. Genau hier wäre ein Handlungsfeld der Politik von morgen zu sehen, einer Art Netzpolitik, die die Netzdialoge und unser Zusammenleben formt und organisiert auf der Basis eines noch zu entwickelnden "politischen Netzwerkmanagements".
Denn die Netzdialoge geben uns Möglichkeiten, mehreren Netzdialogen und damit mehreren Interessensgruppierungen gleichzeitig und aktiv anzugehören. Diese Gruppierungen entstehen aber, wie schon gesagt, nicht nur aus territorialen Gemeinsamkeiten, sondern ebenso aus gemeinsamen Interessen gleich welcher Art. Sie besitzen mehr Ähnlichkeit mit den Goethe’schen Wahlverwandtschaften denn mit territorialen oder ethnischen Banden. Der französische Kulturwissenschaftler Jaques Attali nennt dies die "Multidimensionale Demokratie". Und diese will nicht nur ausgehalten, sondern auch gemanagt werden, auf eine Art und Weise, die den Dialogen kultureller Vielfalt und Verschiedenheit befördernd gerecht wird[27]. Aber solange die Übertragungskanäle für die Rückkopplungen zwischen den Einbahnstraßen der die Politik vermittelnden Diskurse der Massenmedien (die nicht wirklich gehört werden) und den vor sich hin schwafelnden Netzdialogen im Internet (die ungeformte "informationelle Rohstoffe" darstellen) fehlen, ist das System im kybernetischen Sinne "offen und instabil" und damit im dialektischen Sinn "nicht kontrollierbar"[28].
Politisch kompetentes und verantwortliches Handeln nimmt die fehlenden Rückkopplungen in den Blick. Es beginnt in der Schule. In der Schule - und nirgendwo sonst - werden die zukünftigen Teilnehmer an der Informations- und Wissensgesellschaft auf die Kulturtechnik Netzwerk vorbereitet.
Es ist an der Zeit, damit anzufangen.
Einzelnachweise
- ↑ Weidemann, Kurt; Wortarmut - Im Wettlauf mit der Nachdenklichkeit, Stuttgart 1994, S. 75
- ↑ BIP = Bruttoinlandsprodukt
- ↑ Elite-Uni-Konzept stösst auf scharfe Kritik, Stern, Hamburg, 06. Jan. 2004
- ↑ Paul, Joachim; Warum Deutschland die Piratenpartei braucht ..., www.vordenker.de, Nov. 2009
- ↑ Dijkstra, Edsger W.; The strengths of the academic enterprise
- ↑ Schmidt, Volker; Koagulierender Haferschleim, TV-Kritik von FR-Online vom 30.11.2009
- ↑ Wieczorek, Thomas; Die verblödete Republik, München 2009
- ↑ Müller, Albrecht; Liebs, Wolfgang; [http://www.nachdenkseiten.de Nachdenkseiten - Das kritische Tagebuch
- ↑ Beer, Stafford; Brain of the Firm; Hoboken 1981
- ↑ Hasecke, Jan Ulrich; Juh’s Sudelbuch zur Piratenbildung
- ↑ Wößmann, Ludger; Drei Billionen Euro verspielt, Interview in der Wirtschaftswoche, 01.04.2010
- ↑ Hurrelmann, Klaus; Was haben wir den Kindern angetan?; Interview 01.02.2008
- ↑ Davis, Philip J.; Hersh, Reuben; Erfahrung Mathematik, Stuttgart 1986, S. 321ff
- ↑ Davis, Philip J.; Hersh, Reuben; Erfahrung Mathematik, Stuttgart 1986
- ↑ McLuhan, Herbert Marshall; Die magischen Kanäle - Understanding Media, Dresden 1994, S. 196f
- ↑ Struck, Peter; Netzwerk Schule, München 2001, S. 153
- ↑ Gadamer, Georg; Hegelzitat, Rede im SWR, 2000
- ↑ OECD, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung; Lernen für das Leben, Erste Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA 2000, S.3
- ↑ Tenorth, H.-E.; Erziehungswissenschaft und Moderne - systemtheoretische Provokationen und pädagogische Perspektiven, in: Abschied von der Aufklärung, Hrsg.: H. H. Krüger, Opladen 1990, S. 105-121; zitiert nach: Gudjons, Herbert; Pädagogisches Grundwissen, 6. Aufl., Bad Heilbrunn 1999, S.47
- ↑ Uhle, Reinhard; Unterricht als komplementäre Interaktion selbstreferentieller Subjekte, Überlegungen zu einem handlungstheoretischen Pädagogikverständnis; in: Zwischen Technologie und Selbstreferenz, Fragen an die Pädagogik; Hrsg.: Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr, Frankfurt 1982, S. 116-138
- ↑ Röll, Franz Josef; Pädagogik der Navigation, München 2003
- ↑ Flusser, Vilém; Kommunikologie, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1998, S.16ff
- ↑ Innis, Harold; The Bias of Communication, Toronto 1951, dt.: Das Problem des Raumes, in: Kursbuch Medienkultur; Hrsg: Pias, Vogl, Engell, Fahle, Neitzel, DVA, Stuttgart 1999
- ↑ Lévy, Pierre; Die kollektive Intelligenz, Mannheim 1997
- ↑ Rosetto, Louis; Wired Magazine, Interview im Arte-Themenabend Internet, Straßburg 1996
- ↑ Flusser, Vilém; Die Informationsgesellschaft, Phantom oder Realität?, Vortrag auf der CulTec in Essen 1991, Audio-CD, Suppose Verlag, Köln 1999
- ↑ Attali, Jacques; Interview im Arte-Themenabend Internet, Straßburg 1996
- ↑ von Foerster, Heinz; Kompetenz und Verantwortung; Grundsatzreferat zur Herbsttagung der American Society for Cybernetics 1971; in: KybernEthik, Merve Verlag, Berlin 1993, S.161ff