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Der Bundesparteitag möge beschließen, folgenden Text als programmatische Aussage der Piratenpartei Deutschland anzunehmen und an geeigneter Stelle in das Piraten-Wahlprogramm auf Bundes- und Europa-Ebene aufzunehmen:
Europäische Wirtschafts- und Währungsunion
Die Europäische Union befindet sich zurzeit in der schwersten Daseinskrise seit ihrer Gründung. Die Gemeinschaftswährung Euro, konzipiert als Krönung des europäischen Wirtschaftsraums, hat die Europäische Union in eine tiefe Sinnkrise gestürzt.
Die eklatanten Konstruktionsfehler der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion tragen im Zuge der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise maßgeblich zur Ausweitung der Ungleichgewichte unter den Eurostaaten bei. Die einseitige europäische Rettungspolitik aus Spardiktaten, Lohn-, Renten- und Sozialkürzungen stellt einen doppelten Schlag ins Gesicht der Bürger dar: Das mangelhafte Krisenmanagement führt durch die Sozialisierung der Verluste bei gleichzeitiger Privatisierung der Gewinne zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Spaltung zwischen und in den Mitgliedsstaaten. Zudem ist die Krisenpolitik ein undemokratischer Rückschritt im europäischen Integrationsprozess.
Die massenweise Finanzierung von Staatsschulden zweifelhaften Wertes über die Europäische Zentralbank (EZB) und den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) lehnen wir PIRATEN strikt ab. Um die Schuldenkrise in Europa wirksam zu lösen, fordern wir PIRATEN daher die kurzfristige Durchführung frühzeitiger einmaliger Schuldenschnitte von Staatsschulden in der Europäischen Union sowie eine effektive Restrukturierung, und wenn nötig, Rekapitalisierung maroder Banken. Wird nach konsequenter Beteiligung der Eigentümer die Eigenkapitalquote einer Bank zu niedrig, dann soll die betroffene Bank durch Umwandlung von Fremdkapital in Eigenkapital stabilisiert werden. Als letzter Schritt ist eine Verstaatlichung zu prüfen, wenn eine Insolvenz aufgrund der gesamtwirtschaftlichen Folgewirkungen ausscheidet. Eine Abfederung sozialer Einschnitte durch den Schutz von Kleinanlegern bzw. privater Renten- und Lebensversicherungen ist bis zu einem Höchstbetrag zu gewährleisten.
Um die wirtschaftlich angeschlagenen Eurostaaten auf die Beine zu bringen, fordern wir PIRATEN einen „Marshall-Plan für Europa“ – ein Aufbau- und Investitionsprogramm, das sowohl die kurzfristige Konjunkturentwicklung fördert als auch das längerfristige Wachstumspotenzial stärkt. Ziel ist der Umbau und die Modernisierung der europäischen Volkswirtschaften hin zu einer energiearmen und ressourcenschonenden Wirtschaftsstruktur.
Zur Wiederherstellung rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Prinzipien in der EU muss eine Rückabwicklung aller nicht-marktkonform erfolgten Rettungsmaßnahmen für Finanzinstitute und öffentliche Haushalte durchgeführt werden. Hierzu bedarf es einer unabhängigen Überprüfung aller Rettungsnahmen.
Das gemeinwohlschädliche und teils kriminelle Geschäftsgebaren des Finanzsektors im Zusammenspiel mit mangelhafter Bankenregulierung und -aufsicht in der EU sind wesentliche Ursachen der Finanz- und Eurokrise. Wir PIRATEN fordern einen effektiven europäischen Aufsichtsmechanismus, der zukünftige Kreditexzesse frühzeitig erkennt und wirksam unterbindet. Zur zukünftigen Stabilisierung des europäischen Bankensektors sollte eine Trennung des Geschäftsbereichs „Investment Banking“ von der übrigen Geschäftstätigkeit (Trennbankensystem) europaweit gesetzlich vorgeschrieben werden. Um die Eurozone unabhängiger vom Votum amerikanischer Ratingagenturen und somit den internationalen Finanzmärkten zu machen, setzen wir PIRATEN uns für die sofortige Gründung einer unabhängigen europäischen Ratingagentur ein.
In der forcierten Einmischung der Europäischen Kommission in die Haushaltspolitik einzelner Mitgliedsstaaten sehen wir PIRATEN eine Missachtung des Demokratieprinzips und eine akute Gefahr für den europäischen Einigungsprozess. Wir PIRATEN lehnen den europäischen Fiskalpakt daher als demokratisch nicht legitimierten Eingriff in die Haushaltshoheit der Mitgliedsstaaten ab. Weitere Schritte zur Integration der Eurozone erfordern zwingend eine verstärkte demokratische Legitimation und Rechenschaftspflichten sowie die Ausweitung der parlamentarischen Kontrollrechte.
Europäische Energiepolitik
Ein funktionierender europäischer Energiebinnenmarkt muss auf Versorgungssicherheit, Ressourcenschonung, Verbrauchernutzen und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet sein. Die unvollendete Struktur des bestehenden EU-Energiebinnenmarkts muss an die Herausforderungen, denen Europa in den Bereichen Energie und Klimaschutz gegenübersteht, angepasst werden.
Wir PIRATEN setzen uns für die dezentrale Integration der Energiemärkte in der Europäischen Union mit vielen kleinen und mittelgroßen Energieversorgern ein. Damit ein dezentral organisierter Energiemarkt eine erschwingliche und sichere Energieversorgung für die Haushalte und Unternehmen gewährleisten kann, wollen wir PIRATEN die Netzneutralität der europäischen Energieinfrastruktur durchsetzen. Mit Energienetzen in unabhängiger Hand können verbraucherfeindliche oligopolistische Strukturen auf den europäischen Energiemärkten aufgebrochen und die Position der Verbraucher gestärkt werden.
Wir PIRATEN stehen zu den Klimazielen der EU. Dabei setzen wir bei der Reduktion der Treibhausgasemissionen auf die Erhöhung der Energieeffizienz, ein funktionierendes System für den Emissionszertifikatehandel auf europäischer Ebene sowie die Förderung der regenerativen Energien. Wir machen uns für eine verstärkte Zusammenarbeit bei den Investitionen in die europäische Energieinfrastruktur stark.
Staatliche Subventionen für die fossile und nukleare Energiegewinnung konterkarieren den von uns angestrebten Wechsel hin zu einer zukunftsfähigen, klimafreundlichen und möglichst autarken Energieversorgung in Europa. Dazu zählen insbesondere indirekte Beihilfen in Form von gesetzlichen Haftungsfreistellungen für Atomkraftwerke. Wir PIRATEN fordern die Abschaffung jeglicher Subventionen und Beihilfen für die Förderung fossiler und atomarer Energien.
Für einen funktionierenden Verbraucherenergiemarkt ist eine transparente Preisgestaltung und Offenlegung des Energiequellenmix entscheidend. Nur wenn die europäischen Verbraucher in beides jederzeit Einblick erhalten, können sie informierte Kaufentscheidungen im Sinne ihrer individuellen Präferenzen treffen. Wir PIRATEN fordern eine europaweite Verpflichtung der Energieversorger, den Verbrauchern die entsprechenden Daten barrierefrei bereitzustellen.
Bei der Umsetzung des europäischen Energiebinnenmarkts werden modernste internetgestützte Technologien (SmartGrid) eine Schlüsselrolle spielen. Allerdings birgt die damit verbundene detailgetreue Dokumentation des individuellen Energieverbrauchs erhebliche Missbrauchsgefahren. Hier müssen höchste Datenschutzstandards eingehalten werden.
Digitale Agenda für Europa
Wie kaum ein anderer Kontinent unterliegt Europa dem Wandel hin zur Digitalisierung der sowohl der Gesellschaften als auch der Wirtschaftsstrukturen. Überall in der Europäischen Union wirkt sich dieser Wandel unmittelbar auf das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Gefüge aus. Der freie Zugang zum Internet und seinen Inhalten für alle in der Europäischen Union lebenden Menschen ist Grundvoraussetzung für die Teilhabe am digitalen Leben. Wir PIRATEN fordern daher, das Recht auf Digitale Teilhabe in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu verankern.
Wir PIRATEN setzen uns ein für ein europaweit einheitliches Datenschutzrecht, das höchste Datenschutzstandards insbesondere für die Verbraucherinnen und Verbraucher garantiert. Dieses muss oberhalb des bestehenden deutschen Schutzniveaus liegen. Die Reform des europäischen Datenschutzrechts muss sowohl auf die restriktive Erhebung und Weitergabe sowie zweckgebundene Nutzung von personenbezogenen Daten als auch die Stärkung der Rechte des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Herausgabe und Verwendung personenbezogener Daten bestimmen zu können, ausgerichtet sein. Das gilt auch und insbesondere für die Datenerhebung, -verwertung und -weitergabe durch Staaten, polizeiliche und justizielle Behörden. In diesem Zusammenhang fordern wir PIRATEN die Einführung wirksamer einheitlicher Sanktionierungsbefugnisse für den EU-Datenschutzbeauftragten und nationale Behörden gegenüber privatwirtschaftlichen Unternehmen und staatlichen Einrichtungen, unter anderem in Form von hohen Geldstrafen. Die völlige Unabhängigkeit von nationalen Datenschutzbehörden muss jederzeit gegeben sein.
Wir PIRATEN lehnen die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten in jeglicher Form grundsätzlich ab, auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Die entsprechenden Regelungen im Rahmen der europäischen Gesetzgebung sind zurückzunehmen.
Bei der Ausgestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen mit Drittstaaten, insbesondere durch den Abschluss von Freihandelsabkommen, ist das jeweils in der EU geltende Datenschutzniveau durchzusetzen.
Wir PIRATEN wollen, dass der europaweite Ausbau einer neutralen Kommunikationsinfrastruktur durch die EU stärker gefördert wird. Ziel ist es, in den nächsten Jahren eine lückenlose Breitbandversorgung in der EU gewährleisten zu können. Dafür bedarf es neben der Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für den freien Netzausbau einen diskriminierungsfreien Zugang aller Betreiber zu den bestehenden Netzen. Im Zuge des europaweiten Ausbaus der Netze und ihrer Modernisierung darf es nicht zu einer weiteren Monopolisierung der Kommunikationsinfrastruktur kommen.
Europäische Innen- und Sicherheitspolitik
Wir PIRATEN wollen die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik einer grundlegenden Neuausrichtung unterziehen. Eine „Festung Europa“ ist nicht hinnehmbar. Die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik muss auf der Achtung der Menschenrechte beruhen und die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der UN-Kinderrechtskonvention respektieren. Alle Mitgliedsstaaten müssen gemäß ihren Kapazitäten Flüchtlinge und Asylsuchende aufnehmen. Eine von Solidarität geprägte europäische Flüchtlings- und Asylpolitik darf einzelne Mitgliedsstaaten nicht mit dem finanziellen, logistischen und administrativen Aufwand alleine lassen.
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist Ausdruck einer undemokratischen und menschenverachtenden Abgrenzungspolitik der Europäischen Union. Wir PIRATEN fordern daher die Abschaffung von Frontex und gleichzeitige Hinwendung auf eine humane Nachbarschaftspolitik, die auf die effektive Verbesserung der Lebensbedingungen in den betreffenden Staaten ausgerichtet ist.
Für uns PIRATEN ist der forcierte Einsatz von Drohnen innerhalb der EU-Sicherheitsarchitektur Ausdruck einer fatalen Fehlentwicklung. Abgesehen von eng definierten absoluten Ausnahmefällen lehnen wir PIRATEN den Einsatz von Drohnen in der Europäischen Union grundsätzlich ab. Jeglichen Tendenzen hin zu einer repressiven europaweiten Überwachungsstruktur treten wir PIRATEN entschieden entgegen.
Europäische Verkehrspolitik
Wir PIRATEN betrachten Mobilität als Grundrecht, jedoch den Betrieb eines subventionierten Autos und die Vergesellschaftung der externen Effekte – insbesondere der Umweltfolgen – hingegen als Hemmnis für eine zukunftsfähige Verkehrspolitik. Wir unterstützen die Reduzierung des Autoverkehrs im Rahmen einer multimodalen Verkehrsplanung, die eine abgasfreie urbane Mobilität zum Ziel hat. Auch auf europäischer Ebene streben wir PIRATEN eine gerechte Verteilung der Kosten des Verkehrs für alle Verkehrsträger gemäß dem Verursacherprinzip an.
Wir PIRATEN sehen in der Vernetzung der Verkehrsinfrastruktur, und insbesondere im Ausbau der Transeuropäischen Eisenbahnkorridore, einen wesentlichen Beitrag zum europäischen Integrationsprozess. Dabei ist neben der baulichen Anbindung der Infrastruktursysteme auch die Vereinheitlichung von technischen Standards sowie der Abbau von administrativen Hindernissen eine unerlässliche Grundlage für die Schaffung eines europäischen Verkehrsraumes.
Wir PIRATEN erachten im Bereich des Güterverkehrs die Schifffahrt und schienengebundene Verkehrssysteme als zukunftsweisend. Der Ausbau der transnationalen Güterverkehrslinien ist vordringlichstes Ziel und die Verlagerung von Verkehrsvolumen auf die Schiene ist unumgänglich zur Einhaltung von umweltpolitischen Zielsetzungen sowie der Entlastung der Straßennetze und Kapazitätsoptimierung aller Verkehrsträger. Wir sehen in der europaweiten Förderung der Binnenschifffahrt eine ökologisch sinnvolle Alternative zum Straßengüterverkehr. Die Kapazitäten des Verkehrsträgers Schiff sind auf europäischer Ebene auszubauen. Dabei müssen technische Standards auch für Schiffe mit nichteuropäischer Registrierung gelten.
Wir PIRATEN fordern eine Vereinheitlichung des europäischen Luftraumes zur Steigerung der Sicherheit und Effizienz sowie zur Ermöglichung von innovativen Routenführungen. Die Verringerung von Lärmbelästigung und Umweltbelastungen ist ein zentrales Ziel der Luftverkehrspolitik der PIRATEN. Daneben fordern wir die Vereinheitlichung und den Ausbau von Passagierrechten insbesondere auch im Bereich des Datenschutzes.
Gemeinsame Agrarpolitik
Die gegenwärtige europäische Agrarpolitik rückt die Erzeugung möglichst preiswerter, einheitlicher, tierischer Produkte in den Vordergrund. Das heutige Modell der Gemeinsamen Agrarpolitik belohnt in erster Linie größere Agrarbetriebe, die industrielle, auf Monokulturen oder Massentierhaltung ausgerichtete Landwirtschaft betreiben. Diese einseitige Ausrichtung auf industrielle Landwirtschaft und Produktionssteigerungen wollen wir PIRATEN beenden.
Wir PIRATEN stellen die Notwendigkeit des derzeitigen Fördersystems für den europäischen Agrarsektor grundsätzlich in Frage. Langfristiges Ziel ist der Abbau aller europäischen Agrarsubventionen. Für eine Übergangsphase soll nach Ansicht der PIRATEN das bestehende Fördersystem allein auf die Existenzsicherung kleiner und mittlerer Landwirtschaftsbetriebe, die Entwicklung des ländlichen Raums sowie die Stärkung regionaler Vertriebsstrukturen ausgerichtet sein. Gleichzeitig muss die Förderung von industriellen Großbetrieben im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik stark reduziert werden.
Wir PIRATEN wollen eine europäische Agrarpolitik, die den Anforderungen der Ressourcenschonung, des Umwelt-, Tier- und Klimaschutzes in angemessener Weise Rechnung trägt. Das geht zwingend mit einem Verbot aller Massentiertransporte in der EU einher.
Saatgut, ob gentechnisch oder konventionell resistent gegen Pflanzenschutzmittel gezüchtet, kann durch Auskreuzung in bestehende Ökosysteme eine besondere Gefährdung der Umwelt darstellen. Resistent gezüchtete Pflanzen funktionieren in der Landwirtschaft nur durch den gleichzeitigen Einsatz von speziell darauf abgestimmten Pflanzenschutzmitteln. Hierdurch wird die Landwirtschaft gezwungen, spezifische Mittel bestimmter Hersteller zum Einsatz zu bringen. Dieser Produktionszwang führt die Landwirtschaft in die direkte Abhängigkeit von den Rechteinhabern an Saatgut und Pflanzenschutzmitteln. Eine Kombination von Saatgut mit Pflanzenschutzmitteln und deren Schutz durch Patente lehnen wir grundsätzlich ab.
Wir PIRATEN setzen uns auf EU-Ebene dafür ein, dass künftig keine finanzielle Unterstützung ohne angemessene Gegenleistungen in diesen Bereichen gewährt wird. Dazu bedarf es einer laufenden Neubewertung dieser Leistungen im Hinblick auf ihren Nutzen für die Gesamtheit der europäischen Gesellschaften. Kurzfristig soll jegliche Form der Exportsubvention abgeschafft werden.
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