Benutzer:Semon/Pirat sein

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Thesenpapier: Pirat sein oder: Das neue Betriebssystem für die Politik

Uns Piraten wird öfter mal vorgehalten, dass wir eine Partei von Nerds seien („Pirat Nerd“ liefert 15.400.000 Ergebnisse bei Google) und dass wir nur ein Thema hätten und man nicht wüsste wofür wir stehen. Das mit den Nerds liegt meiner Ansicht nach auf dergleichen Ebene, wie im zwanzigsten Jahrhundert jemanden als Freak zu titulieren, weil er lesen und schreiben könne. Für alle die es noch nicht gemerkt haben: Wir leben im Computerzeitalter. Dass die Erfindung des Computers und insbesondere des Internets für die Gesellschaft ähnliche Auswirkungen haben wird wie die Erfindung des Buchdrucks, ist heute wohl allgemein anerkannt (steht jedenfalls so schon in Wikipedia).

Aber was ist mit dem Vorwurf, wir hätten kein Programm? Nun, wir haben mehr als ein Thema im Parteiprogramm: Mehr Demokratie wagen, Bürgerrechte, Transparenz des Staatswesens, Informationsfreiheit, Patentwesen, Urheberrecht, Bildung, Geschlechter- und Familienpolitik, Umwelt, Whistleblowerschutz, und neu jetzt auch Drogen- und Suchtpolitik.

Viele von diesen Themen und Positionen findet man auch bei anderen Parteien (wenn auch nicht alle zusammen bei einer Partei :-). Die Piraten sollten sich aber nicht darin erschöpfen für jedes Politikfeld eine Meinung zu formulieren. Es geht nicht darum für oder gegen ein bestimmtes Vorhaben zu sein. Der Beitrag der Piraten zur Änderung der aktuellen Politik sollte sein, den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess selbst zu ändern! Oder wie Marina Weisband sagte „ein neues Betriebssystem für die Politik“.

Wie könnte ein solches System aussehen, welches sollten die Kernelemente eines solchen Systems sein? Oder wie Christopher Lauer neulich schrieb: „Was läuft an unserem momentanen politischen System gut/schlecht und was wollen wir daran wie verändern?

Nun wie bei den Piraten üblich spricht erstmal jeder für sich selbst. Was möchte ich Ändern ? Mal ein paar Beispiele:

Gigaliner

Aktuell wird über diese extra großen LKWs diskutiert, wer hier keinen Überblick hat kann sich z.B. hier kurz informieren: [1]. Was möchte ich ändern? Jeder hat in dieser Diskussion so sein Lieblingsargument mit dem er glaubt seine Interessen am besten durchsetzen zu können: Weniger Benzinverbrauch; Mehr Belastung des Straßenbelags; Weniger Belastung des Straßenbelags; Verlagerung von Schiene auf Straße; usw. Die für mich entscheidenden Fragen werden aber nicht gestellt: Was sind die Ziele, welche man mit der Zulassung dieser Fahrzeuge auf deutschen Straßen erreichen möchte? Wer profitiert von einer solchen Entscheidung? Welche möglichen Nebenwirkungen kann eine solche Entscheidung haben? Warum werden diese Fragen nigends gestellt – geschweige denn beantwortet?

Elterngeld

Erinnert sich noch jemand mit welchem Ziel das Elterngeld eingeführt wurde? Das Einzige an was ich mich noch erinnere ist, dass die Geburtenrate gesteigert werden sollte: Familie sollte attraktiver werden! Dann gab es mal eine Von-Der-Leyen Pressekonferenz, auf der verkündet wurde, das Ganze sei ein Erfolg. Danach hat man dann nichts mehr davon gehört, außer so was: Deutschland schrumpft trotz Elterngeld weiter oder so was: Elterngeld steigert Geburtenrate nur bei Besserverdienenden. Mann kann wohl sicher davon ausgehen, dass keine signifikante Steigerung erreicht wurde, sonst wäre schon dafür gesorgt worden, dass uns die guten Nachrichten nicht entgehen. Nun und was kostet uns das Ganze? Anfangs waren es wohl 3,54 Milliarden Euro, aktuell liegen wir bei 4,9 Milliarden Euro, pro Jahr wohlgemerkt.

Urheberrecht

OK, bei dem Thema kann ich mich wohl kurz fassen: Was mir stinkt, ist dass all die Einschränkungen unserer Freiheit und unserer Rechte, die man uns aufzwingen will mit dem Schutz der armen kreativen Urheber begründet werden. Obwohl diese am allerwenigsten davon haben. Das ist der gleiche Mist wie bei den Argarsubventionen, bei deren Kürzung die Kleinbauern jedesmal mit Ihren Traktoren nach Bonn gezogen sind und in Wirklichkeit die Agrarkonzerne den großen Reibach machten.

Kinderpornographie und Zensur

Auch hier nur ganz kurz, weil wohl hinreichend bekannt. Ziel: Kinderpornographie verhindern. Methode: Zensurinfrastruktur aufbauen. Wirkung: Null.

Mehrwertsteuersenkung für Hotels

Weis hier noch jemand was das Ziel war? Gab es eins? Das Gesetz hieß jedenfalls „Gesetz zur Beschleunigung des Wachstums“ und in der Wirtschafts Woche(!) steht dann sowas: [2]. Steuermindereinnahmen: ca. 1 Milliarde Euro pro Jahr.

FAZIT:

Bei all diesen Punkten stimmen die behaupteten Ziele in keiner Weise mit der Wirkung überein, die die Gesetzte haben. Oder es gibt gar keine Ziele.

Dass Ziele nicht klar formuliert werden, ist etwas womit sich Softwareentwickler auskennen: Ein klassisches Problem bei Softwareprojekten ist, das die Anfoderungen nicht klar formuliert werden. Oder genauer: Der Kunde weiß meisst nicht, was er eigentlich genau will (oder braucht). Verzichtet man darauf, die Anfoderungen zu klären, kommt es zu dem bekannten Effekt: Software fertig, Kunde unzufrieden. Auch dass Ziele nicht erreicht werden, ist ein bekanntes Problem bei Software: Abhilfe schafft hier unter anderem, die Software gegen die Anforderungen zu testen!

Was hat aber Softwareentwicklung mit Politik zu tun? Heutzutage eine ganze Menge: So war in der FAZ zum Thema Staatstrojaner ein Artikel unter dem Titel „Code ist Gesetz]“ zusammen mit einem Abdruck des disassemblierten Codes des „Staatstrojaners“. Die Anwendung der CleanCode-Prinzipien hätte bei der Entwicklung des bayrischen Staatstrojaners sicherlich geholfen, einen Verfassungsbruch zu vermeiden. So groß scheint also der Abstand zwischen Softwareentwicklung und Politik heute nicht mehr zu sein.

Ich möchte die Aussage „Code ist Gesetz“ nun einmal umdrehen zu „Gesetze sind Code“. Gesetze sollen dazu dienen das Zusammenleben der Menschen zu regeln. Insofern kann man Gesetze auch als Algorithmen sehen, welche das Verhalten der Gemeinschaft (in gewissem Umfang) steuern sollen. Es gibt Komponenten (= Gesetzbücher), welche für bestimmte Teilbereiche zuständig sind und es gibt enorm viele Wechselwirkungen zwischen diesen Komponenten.

Was sollen wir also anders machen? Lasst uns die Prinzipien, welche sich bei der Entwicklung komplexer Softwaresysteme bewährt haben, mal auf die Politik anwenden:

Ziele: Bevor ein Gesetzt beschlossen wird, sollten zuerst einmal die Ziele definiert werden. Dabei ist es wichtig das diese Ziele ein Mindestmaß an Überprüfbarkeit besitzen: Kriminalitätsrate senken? Gutes Ziel! Familien fördern! Das ist Wischi-Waschi und kein Ziel! Die Definition von überprüfbaren Zielen ist ein unbedingtes Muss, wenn man von der Politk der leeren Versprechungen weg kommen will. Natürlich gibt es kaum monokausale Zusammenhänge bei denen sich Ursache (z.B. Gesetz gegen Drogenkomsum) und Wirkung (z.B. Kriminalitätsrate sinkt) einwandfrei belegen lassen. Umgekehrt kann die Devise jedoch nicht heißen: Wir geben eine Menge Geld aus, egal ob sich etwas ändert oder nicht.

Reduktion von Komplexität: Politik ist eine enorm komplexe Angelegenheit. Warum? Weil seit 100 Jahren kein anständiges Refactoring mehr durchgeführt wurde! So gibt es z.B. jede Menge toten Code (Gesetze und Regeln, die niemand mehr anwendet und die niemand braucht) und haufenweise redundanten Code (ähnliche Paragraphen in verschiendenen Gesetzen, die alle das gleiche Ziel verfolgen). Ein Mittel zur Reduktion von Komplexität ist, Verantwortlichkeiten klar auf einzelne Komponenten/Gesetze aufzuteilen. Beispiel: In der Datenschutzschulung der Piraten, werden 21 Gesetze genannt, welche beim Datenschutz zu beachten sind.

Testen: Aktuell wird praktisch überhaupt nicht getestet. Einmal beschlossene Gesetze sind fertig, ob Sie funktionieren, ob sie effektiv – insbesondere KOSTEN-effektiv sind, interessiert niemanden mehr. Das muss sich ändern. Wenn ein Gesetz die definerten Ziele nicht erreicht muss es geändert oder abgeschafft werden.

Mann kann die Methodik noch mir mehr Aspekten aus der Softwareentwicklung anreichern. Der Grundgedanke ist jedoch klar durch die folgenden drei Schritte zu formulieren:

  • Überprüfbare Ziele der Politik formulieren und mit dem Auftrageber (dem Volk) abstimmen. Dabei müssen die Ziele klar von der Umsetzung getrennt werden!
  • Die kostengünstige Lösung zur Umsetzung der Ziele finden.
  • Überprüfen, ob die gesetzten Ziele erreicht werden

Wenn man diese Methodik, diesen Core des neuen Betriebssystems für die Politik, auf die bisher von den Piraten vertretenen Kernthemen anwendet, so stellt man fest das die meisten unserer Ziele und Argumente genau in dieses Schema passen: Ein immer wiederkehrendes Muster kann man in der Frage zusammenfassen Ist die Maßnahme XY (z.B. Internetsperren oder Patente auf Software) wirklich dem vorgegeben Ziel (Bekämpfung v. Kinderpornografie oder Förderung von Innovation) angemessen?

Als Name für diese Methodik schlage ich Clean Government oder „Sauberes Regieren“ vor.

Nachtrag 4.4.2012: Nach etwas suchen im Internet habe ich festgestellt, das Clean Government vieleicht doch nicht die erst Wahl ist. Der Begriff ist in Amerika schon mit Bedeutung vorbelastet:

Die Alternative "Clean Democracy" scheint allerdings noch unbelastet zu sein.

Jörg Witzel alias Semon

Kevin Wennemuth alias feffi