Benutzer:Michael Ebner/fdp
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Die FDP und die Piraten
Heute ging über Twitter, dass unsere beiden früheren Bundesvorsitzenden @BuBernd und @Tirsales Mitglied der FDP geworden sind. @Tirsales hat dazu einen nicht uninteressanten Beitrag in der Zeit veröffentlicht (http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-10/sebastian-nerz-fdp-piratenpartei-gastbeitrag), in dem er viele richtige Dinge schreibt.
Nach meiner Einschätzung ist der Kern seiner Überlegungen folgender: Eine Aufsplittung der liberalen Kräfte auf verschiedene Parteien, die allesamt an der 5%-Hürde scheitern, dient nicht den liberalen Kräften und schon gar nicht den liberalen Themen. Das ist unter der Realität einer 5%-Hürde nicht von der Hand zu weisen.
Nun würden wir ob dieser Erkenntnis sicher alle gemeinsam aufspringen, Hurra rufen und geschlossen in die FDP eintreten - wenn es denn nicht die FDP wäre. Da spielt viel verständliche Enttäuschung mit, schließlich hat die FDP den Liberalismus (genauer gesagt den Liberalismus unserer Vorstellung, nämlich den Sozialliberalismus) derart verraten, wie vielleicht nur noch die SPD die soziale Gerechtigtkeit [1] oder die Union das Christentum [2].
Allerdings: Eine Partei muss auch mal Fehler machen (und diese dann bitte korrigieren) dürfen - wenn nicht, müssten wir unseren Laden ohnehin sofort zumachen. Und wir sollten der Fairness halber auch berücksichtigen, dass die FDP auch ein paar Dinge richtig gemacht hat. Solange eine Frau Leuthäuser-Schnarrenberger im Justizministerium sitzt, beschließt der Bundestag keine Vorratsdatenspeicherung. Und wenn ich mir den Beschluss des FDP-Präsidiums zur Flüchtlings- und Einwanderungspolitik ansehe (http://www.fdp.de/sites/default/files/uploads/2015/08/27/12015-08-26-prae-10-punkte-fluechtlingspolitik.pdf), dann ist das zwar definitiv keine Piraten-Position und nicht das, was ich mir wünsche, aber zumindest etwas, womit ich morgens noch in den Spiegel schauen könnte. Bei dem, was die sogenannten Volksparteien gerade machen, wäre mir das nicht möglich.
Zurück zu den zwei Beitritten: Wenn zwei ehemalige Bundesvorsitzende der Piraten näherungsweise gleichzeitig der FDP beitreten, deren Bundesvorsitzende sie öffentlich willkommen heisst, und die ZEIT den erklärenden Text dazu druckt, dann sieht das weniger nach Zufall sondern nach einer abgestimmten Aktion aus. Da wurde uns also ein Angebot auf den Tisch gelegt, und zwar so indirekt, dass wir uns dazu nicht positionieren müssen, aber eine Option haben. Da versteht jemand diplomatisch geschicktes Vorgehen.
Optionen zu haben ist grundsätzlich gut. Sie gedankenlos anzunehmen ist ebenso falsch wie die gedankenlos abzulehnen. Wir sollten jetzt also gründlich nachdenken, nach Möglichkeit auch Spielräume ausloten, und dann klug entscheiden. Für diese kluge Entscheidung brauchen wir die Lageeinschätzung beider Parteien sowie eine Skizze der Basis, auf der ein Zusammenfinden - sollte es denn zustandekommen - stattfinden könnte.
Die Lage der Piraten
Nach meiner Einschätzung wurden im Sommer 2012 drei strategische Fehler gemacht [3], die den Absturz der Piraten eingeläutet haben. Mit der Nicht-Einigung beim Thema SMV wurde die Bundestagswahl endgültig versemmelt. Durch das Vorgehen des Bremen-BuVos und die auch nicht immer durchdachten und besonnenen Reaktionen darauf ging auch die Europawahl in die Binsen. Seit der Niedersachsenwahl haben wir in etwa die Perspektive der ÖDP: Kommunale Mandate plus ein Europamandat. Die vier Landtagsfraktionen sind so eine Art "Altlast" aus vergangenen Zeiten, auch wenn da überwiegend gute Sachpolitik gemacht wird. Aber wir müssen nach Lage der Dinge davon ausgehen, dass alle "One-Hit-Wonder" sein werden.
Auch organisatorisch und finanziell sind wir seit längerer Zeit auf dem Rückzug. Ja, Schatzmeisterei und Mitgliederverwaltung läuft (zumindest auf Bundesebene) dank Selbstausbeutung das handelnden Personen. IT läuft halbwegs dank massivster Selbstausbeutung der handelnden Personen. Ansonsten sehe ich viel Elend: Wir haben kein BEO, die SMV wird in den Ländern nach und nach wieder eingestellt, die Kampangnenfähigkeit ist erbärmlich, von inhaltlichen Impulsen, die bis in die öffentliche Debatte durchschlagen, will ich gar nicht erst träumen.
Berlin. Ja, viele hoffen auf Berlin, da dank der dortigen Piratenfraktion und eines BER-Untersuchungsausschussvorsitzenden die Umfragewerte noch auf den ersten Blick Anlass zur Hoffnung geben. Man möge bitte mal zur Kenntnis nehmen, dass schon jetzt, da es keinen interessiert, von Mitgliedern der Piratenfraktion die Piratenpartei schlechtgeredet und vor ihrer Wahl gewarnt wird. Man soll doch bitte nicht erwarten, dass das im Wahlkampf dann plötzlich aufhört. Kurz: Der Wahlkampf wird frustrierend werden und das Ergebnis wohl auch. Das einzig erreichbare Ziel scheint mir derzeit zu sein, das mit Anstand hinter sich zu bringen, und sich nicht auf ein Niveau herabziehen zu lassen, auf das uns andere gerne ziehen würden.
Kurz: Wir sind in einer Position, in der wir über unsere Optionen gründlich nachdenken sollten.
Allerdings - und auch das gehört zu einer realistischen Lageeinschätzung: Die Piratenpartei ist weder tot noch am Ende. Wir haben immer noch mehrere Optionen. Die entscheidende Frage bei den anderen Optionen ist: Wie belastbar wird der Durchhaltewillen von wie vielen sein, nach einer frustrierenden AGH-Wahl in Berlin weiterzumachen, und wie viel Zeit, Kraft und Geld werden sie noch in die Piratenpartei stecken?
Die Lage der FDP
Die Absturzphase der FDP dauert schon etwas länger, war auch ein Teil des Erfolgs der Piratenpartei 2011/12 und fand ihren Höhepunkt im Verlust der Bundestagsfraktion. Bei der Konsolidierung war die FDP jedoch erfolgreicher, in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen gelang der Einzug in die Bürgerschaft.
Ich bin jetzt kein ausgewiesener Kenner der FDP, das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Parteiströmungen, insbesondere den Wirtschaftsliberalen und den Bürgerrechnerliberalen (möglicherweise gibt auch noch Reste von Sozialliberalen) vermag ich nicht einzuschätzen. Es scheint, dass die Wirtschaftsliberalen gerade - im Vergleich zu früher - stark in der Defensive sind. Ob die FDP erkannt hat, dass ihr eine überwiegend wirtschaftsliberale Ausrichtung schlicht die Mandate kostet, ob das eine taktische Defensive ist, oder ob das nur für Außenstehende so scheint, da die Presse sich mal wieder mehr um gute Geschichten als um möglichst objektive Berichterstattung kümmert - ich weiß es nicht.
Es kann jedoch als gesichert gelten, dass Christian Lindner 2017 den Wiedereinzug in den Bundestag "liefern" muss, dass ihm dabei gelegen kommen würde, wenn er frische Geschichten erzählen kann, wenn die FDP belegbar nicht mehr als die sozial kalte großunternehmensfreundliche Klientelpartei ist. Und auch für die FDP gilt "lieber ein paar Positionen weniger durchgesetzt, dafür aber überhaupt welche durchgesetzt". Und natürlich hängen an Bundestagsfraktionen auch massiv wirtschaftliche Existenzen, der Erfolgsdruck ist also deutlich höher als bei den Piraten. Zur Option kommt also auch noch eine Verhandlungsposition.
Auf welcher Basis?
Kein Mensch mit Verstand wird davon träumen, dass nun 17.000 Mitglieder augenblicklich zur FDP überlaufen könnten. Wir reden bei optimistischer Annahme von vielleicht 6.000 Piraten (inkl. einiger Ex-Piraten, und es sind ja nicht nur @BuBernd und @Tirsales bereits dort), für die das infrage kommen könnte. Das würde dann etwa 10% der Mitglieder der FDP ausmachen. Das ist natürlich weit davon entfernt, um da mit Mehrheit Positionen durchsetzen zu können.
10% jedoch, die mit Elan den bürgerrechtsliberalen und sozialliberalen Flügel der FDP stärken, bleibt dann jedoch auch nicht ohne Auswirkungen auf die innerparteiliche Macht-Arithmetik. Die Alt-FDPler hätten natürlich Heimvorteil. Wir haben Online-Tools und wissen sie zu nutzen.
Es geht dann natürlich auch um Delegierte, Vorstände und Listenplätze. Diese werden nicht wirklich gewählt, sondern es wird nach parteiinternen Proporz eine Liste ausgeschachert, die dann der Parteitag bestätigt. Ein Gedanke, mit dem ich mich schwer anfreunden kann. Auf den anderen Seite: In Würzburg war bei der Vorstandswahl auch jeweils schon vorher klar, wer gewählt wird, und es interessierte allenfalls noch das Ergebnis - wir haben also de facto dieselbe Situation, auch wenn wir auf anderem Weg (und mit einem aufwendigeren Wahlverfahren) dort hin gekommen sind.
Der Deal in einer etablierten Altpartei würde lauten: Der "Ak Netzpolitik" (oder wie das dann auch immer heissen mag) hat etwa 10% der Mitglieder hinter sich, und die werden ihren Unmut sehr vehement zum Ausdruck bringen, wenn sie nicht bei etwa 10% der Delegierten, Vorstände und Listenplätze berücksichtigt werden - und kein Vorsitzender bindet sich ohne Not einen solchen innerparteilichen Shitstorm an's Bein. Die Aktiven würden nicht mehr in der Verwaltungsarbeit aufgerieben werden (zumindest deutlich weniger als bisher - nach oben skizzierter Arithmetik 10%...), das würde Zeit und Energie freisetzen für inhaltliche Arbeit und Kampagnen.
Prognosen sind immer schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Als 10%-Minderheit in einer Partei bekommt man zwar nicht allzuviele Positionen durchgesetzt, aber "entscheidend ist auf dem Platz" - es zählen nicht die Texte im Parteiprogramm, sondern die Texte im Gesetzbuch. Als 10%-Minderheit in einer Partei, die zumindest auf Bundes-Ebene überproportional häufig Regierungspartei war und auch wieder sein könnte, bekommt man womöglich mehr durchgesetzt denn als 1,5%-Partei, die sich in der Verwaltungsarbeit aufreibt. Zudem wir ja nicht alleine gegen den Rest stehen würden, sondern gerade bei den Menschen- und Freiheitsrechts an der Seite eines relevanten Parteiflügels.
Und nun?
Korrelierende Interessenslagen sind eine notwendige, keine hinreichende Voraussetzung. Um eine Entscheidung treffen zu können, sollten nun besonnene Piraten mit besonnenen Freidemokraten reden und grobe Ideen (wie dieser Text hier) auf Realisierbarkeit und Konkretisierung hin durchdiskutieren.
Wir brauchen baldmöglichst auch eine belastbare Einschätzung der Kräfteverhältnisse bei der FDP: Wenn dort eine leichte Stärkung der Bürgerrechtsliberalen die innerparteiliche Mehrheit kippen würde, wäre das eine andere Lage, als wenn aus einer relevanten Minderheit eine etwas relevantere Minderheit würde.
Wir sollten auch entscheiden, was für uns eine politische Partei ist: Eine politische Heimat, oder ein Tool zur Durchsetzung politischer Interessen? Ja, natürlich beides - aber was primär?
Und dann sollten wir auf Grundlage aller dieser Punkte eine Entscheidung treffen, und nicht aus dem Bauch heraus, oder weil uns spontan mindestens 10 Dinge einfallen, die uns bei der FDP gründlich missfallen. Wie diese Entscheidung dann ausfällt, kann ich nicht vorhersehen - noch nicht mal, wie ich selbst dann entscheiden werde. Aber ich bin mir sicher, dass es ein Fehler wäre, diese Option sich nicht näher anzusehen.
Fußnoten
[1] Sehen wir mal gnädig darüber hinweg, dass die SPD als Juniopartner in einer großen Koalition den Unionswünschen allenfalls hinhaltenden Widerstand entgegensetzt. Betrachten wir die Episode, als die SPD klargestellt hat, wer Koch und wer Kellner (also die Grünen) ist: Was hat die SPD in zwei Legislaturperioden Rot/Grün für's Prekariat getan? Wenigstens ein bisschen was? Und nein, kommt mir jetzt nicht mit der Einführung des Flaschenpfandes, dieses Gesetz stammt noch aus der Kohl-Ära.
[2] Vergleichen wir mal die Aussagen des Neuen Testamentes (die andere Wange hinhalten (Lukas 6 29), das Kamel und das Nadelöhr (Markus 10 25) oder was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan (Matthäus 25 40)) mit dem aktuellen Handeln der Union in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit, der Wirtschafts- bzw. der Flüchtlingspolitik. Nuff said.
[3] Mit der starken Thematisierung des Leistungsschutzrechtes hat man sich ohne Not (man hätte sich auch mit einer Tüte Popcorn entspannt zurücklehnen können und den Verlagen zusehen können, wie sie sich an Google die Zähne ausbeissen) Print zum Feind gemacht. Dann wurden die GEZ-Gebühren thematisiert und hat sich zusätzlich auch noch Öffentlich-Rechtlich zum Feind gemacht. Und mit dem Umgang mit Johannes hat man die Grundeinkommensbewegung massiv vor den Kopf gestoßen.
Nachträge
Um bei der aktuellen Diskussion nicht auf 140 Zeichen beschränkt zu sein - die halt bei komplexeren Fragen oft nicht reichen - gibt es hier noch Nachträge:
TTIP
Per Twitter schreibt @BrunoGertKramm: "@Dueseberg @MichaelEbnerPP es gibt elementare, grundsätzliche, niemals vereinbare Gegensätze: #TTIP"
Dazu folgende Anmerkungen:
- Ja, es gibt niemals vereinbare Gegensätze - aber haben wir die nicht auch schon innerparteilich? Und das ist ja auch völlig ok, es ist eine Partei und keine Religionsgemeinschaft.
- Da jetzt gerade das Thema TTIP anzuführen überzeugt mich nicht: Nach Lage der Dinge wird kein einzige FDP-Abgeordneter und kein einziger Piraten-Abgeordneter dazu im Bundestag seine Stimme abgeben. Es besteht also keinerlei Anlass, da Gegensätze zu vereinbaren - man könnte sie auch stehenlassen (we agree to disagree...).
- Ich halte es für ausgeschlossen, dass alle Mitglieder der FDP geschlossen hinter TTIP stehen. So langsam scheint es ja auch dem Mittelstand zu dämmern, wer hier Nutznieser sein wird und wer eben nicht. Wie viel muss man bewegen, um die FDP von einer Pro-TTIP zu einer Contra-TTIP-Partei zu machen? (Was ich noch nicht mal verlangen würde - mir würde es völlig reichen, mich öffentlich gegen TTIP positionieren zu können.)
Ehefüralle
@Geisterfalle schreibt: Wer lieber mit der CDU koaliert als z.B. Ehefüralle umzusetzen, ist meines erachtens für Piraten disqualifiziert.
Dazu folgende Anmerkungen:
- Derzeit koaliert die FDP ja nicht, sie ist aus dem Bundestag geflogen. Was auch ein Nachdenken über die Ursache befördert haben könnte.
- Es gehört zu den Spielregeln der Politik, dass man als Teil einer Koalition nicht alle seine Positionen durchbekommt. Schon gar nicht als Junior-Partner, der die FDP ja stets ist. Und auch die Gefahr hin, dass ich jetzt mit dieser Prognose jetzt viele wahnsinnig enttäuschen werden: Auch die Piratenpartei wird als Koalitionspartner nie alle Positionen durchbekommen. Frage mal die Kommunalpiraten, die in Koalitionen sind. Und wäre es 2009 statt Schwarz-Gelb dann halt eine große Koalition geworden - die SPD hätte Ehefüralle auch nicht durchgesetzt.
- Eine andere Meinung sei Dir unbenommen, aber meiner Ansicht nach disqualifiziert man sich nicht dadurch, in einer Koalition Kompromisse eingehen zu müssen. Disqualifiziert hätten sie sich z.B. durch offene Homophobie - aber das kann nun der FDP sicher nicht unterstellen.