Benutzer:JensSeipenbusch/OnlineParteitag

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Der Online-Parteitag (#OnBPT)

Der vergangene Bundesparteitag in Bochum hat erneut eine bereits länger diskutierte Frage in der Piratenpartei aufgeworfen. Wie vereinen wir basisdemokratische Ansprüche an einen Bundesparteitag mit unseren Ansprüchen an Effizienz und Qualität der Beschlüsse vor den Sachzwängen begrenzter Resourcen, wie Zeit, Geld, Aufmerksamkeit und ehrenamtlichem Arbeitseinsatz. Scheinbar gehen Anspruch und Umsetzung bei 700 Anträgen an eine zweitägige, halbjährliche Versammlung, die dann 15 von ihnen diskutiert und beschließt in eklatanter Weise auseinander. Zumindest stellt sich dies offenbar der Presse und den wenig an prinzipientreuer Basisdemokratie interessierten Bürgern außerhalb der Partei so dar. Die exzessiv ausgelebte Autonomie der Mitgliederversammlung verhindert selbst unverdächtig klingende, wirksame Vorbereitungen, wie eine nichtbindende Vorgabe der Tagesordnung durch den Vorstand. Auch innerhalb der Partei gibt es ein gerüttelt Maß an Unzufriedenheit bei denjenigen, die in oft langwieriger Vorarbeit Anträge entwickeln und dann größtenteils unverrichteter Dinge vom Ort des Treffens wieder abreisen. Anstatt einer Lösung halten bereits Elemente von Doppelmoral Einzug, wenn man einerseits offiziell Basisdemokratie aus Angst vor Kritik hochhält, aber andererseits durch Quoren für alles und jedes faktisch abschafft und im selben Zuge sogar den Minderheitenschutz aufweicht. Unermüdlich preisen einige Piraten hierfür ihren Lösungsvorschlag an, der inzwischen den Namen 'ständige Mitgliederversammlung' (sMV) trägt und im wesentlichen auf einer verbindlichen Nutzung von 'liquid feedback' als entscheidendem Parteiorgan beruht. Doch die Mitglieder scheinen sich der im Vorfeld des Parteitags verkündeten 'Alternativlosigkeit' dieser Lösung nicht recht ergeben zu wollen - in Bochum wurde mehrfach eine Behandlung dieses Themas abgelehnt. Primärer Grund war sicher die absehbar unendliche Debatte, die eine solche Behandlung auf dem Parteitag zur Folge gehabt hätte und der Verlust von Zeit zur Aufstellung des Wahlprogramms, was erklärtermaßen der Fokus in Bochum sein sollte. Hinter den Kulissen hörte man aber auch unabhängig davon wenig inhaltliche Zustimmung zu diesem Satzungsänderungsantrag, denn die sMV und LQFB als Organ kommen mit zahlreichen Pferdefüßen im Gepäck, die nur wenige Mitglieder alle wirklich für akzeptabel halten. Nicht zuletzt kommt ein neues Gutachten (?) des LDSB Berlin zu dem Schluß, dass Teile davon nicht mit dem (Parteien-)Gesetz vereinbar sind. Aus piratischer Sicht einer Politik der kritischen Begleitung des Übergangs zum Informationszeitalter würde ich hier ergänzen: der Vorschlag krankt insgesamt daran, dass er die Technik die Vorgaben machen läßt, anstatt die Technik zur Umsetzung eigener technikunabhängiger Anforderungen zielgerichtet und kontrolliert einzusetzen.

Zu dieser Problematik möchte ich hier mit dem 'Online-Parteitag' eine alternative Lösung aufzeigen, die aus meiner Sicht nicht nur unsere _tatsächlichen_ Probleme lösen kann, sondern dies darüberhinaus auch u.a. angemessen, wirksam, datensparsam, direktdemokratisch, dezentralisierbar und anpaßbar tut. Der Vorschlag ist darüberhinaus auch geeignet den unnötigerweise gespaltenen Lagern in dieser Frage zu einem Kompromiß zu verhelfen. Die Grundidee ist einfach und wird bereits in ähnlicher Art und Weise von unserer schwedischen Schwesterpartei praktiziert. Der Parteitag findet wie gehabt in einem sinnvollen Rhythmus statt, beispielsweise halbjährlich. Die Dauer dieses Parteitags beträgt 4 Wochen. Zu Beginn dieses Zeitraums findet eine Art Akkreditierung statt. Über den Zeitraum des Online-Parteitags gibt es einen fest umrissenen Bereich (Online-Medien, im einfachsten Falle ein Forum), in dem die zu den Anträgen gehörige Aussprache stattfindet. Im Verlauf bzw. gegen Ende dieses Zeitraums gibt es ein oder mehrere Zeitfenster für die Abstimmungen. Soweit so einfach, nun zu den Details.

Zunächst der #Zeitraum:Bei der schwedischen Piratenpartei erstreckt sich der Online-Parteitag derzeit auf 6 Wochen, in meinen Gesprächen mit schwedischen Piraten war aber die Meinung vorherrschend, dass 4 Wochen wohl völlig ausreichend sind. Ein solcher Zeitraum soll bewirken, dass eine gleichberechtigte Teilnahme am Parteitag praktisch jedem ohne Terminkollisionen ermöglicht wird. Selbst 2-3 Wochen Urlaub würden hier dann kein Hindernis mehr darstellen, von den üblichen Problemen bei Wochenenden ganz zu schweigen. Dieser Zeitraum ist natürlich frei festlegbar, wenn ich ihn zu stark ausdehne, behindere ich aber eher Arbeit, als dass ich welche ermögliche, denn auch der Online-Parteitag soll noch eine Phase der Entscheidungsfindung darstellen, die sich von den Phasen der Erarbeitung in gewisser Weise abgrenzt, damit der Fokus der Parteiöffentlichkeit in dieser Zeit auch zielgerichtet wirken kann.

Dann die #Akkreditierung:Auf den zurückliegenden Parteitagen wurde bei der Akkreditierung grob folgendes getan. Das Mitglied hat sich in irgendeiner Form zu erkennen gegeben, daraufhin wurde in der Mitgliederdatenbank geschaut, ob Stimmberechtigung vorliegt (im wesentlichen ob der Beitrag bezahlt war), und dem Mitglied ein Armbändchen mit einer Nummer ausgehändigt sowie die Stimmzettel. Diese Vorgehensweise halte ich grundsätzlich für erhaltenswert, sie wird halt nur übertragen. Im einfachsten Fall melden sich die Mitglieder zur Teilnahme am Online-Parteitag online zentral an und bekommen eine elektronische Akkreditierungsnummer bzw. ein Token oder etwas vergleichbares. Für eine solche Vorgehensweise gibt es bereits Beispiele wie die Lime-Survey-Umfrage per E-Mail-Ankündigung. Es gibt aber auch andere Umsetzungsmöglichkeiten der Akkreditierung, die alternativ oder auch ergänzend vorgenommen werden können, beispielsweise die dezentrale Akkreditierung. Zu den Dezentralisierungsoptionen später mehr, wenn es um die Abstimmungen geht, bleiben wir hier zunächst bei der einfachen zentralen Online-Akkreditierung. Gekoppelt mit der Erteilung der Akkreditierungsnummer (aka Token) könnte direkt eine Erstellung der notwendigen Zugänge in den Diskussions- und Abstimmungssystemen vorgenommen werden. Man stelle sich vor, es gibt ein separates, noch völlig leeres Online-Forum, das für den bestimmten Online-Parteitag erzeugt wird. Dann bekommen die Akkreditierten dort automatisch einen Account angelegt, der beispielsweise auf ihre Akkreditierungsnummer lautet. Auch mit komplizierteren Systemen wäre das ohne weiteres möglich, von Adhocracy über wiki-arguments bis liquid feedback könnte man solche parteitagsgebundenen Instanzen (= abgeschlossene Einheiten) machen, wenn man die Software selbst hostet. Zur Koordinierung des gesamten Ablaufs böte sich eventuell sogar eine Parteitagsinstanz eines PiratenID-Servers hinter der Clearingstelle an.

Dabei löst die Instanzierung und die vorausgegangene Akkreditierung mehrere Probleme auf einmal. Im Gegensatz zur ständigen Mitgliederversammlung kann das Mitglied selbst entscheiden, ob es am Parteitag teilnehmen möchte oder nicht. Man muß nicht alle Mitglieder auf Verdacht verarbeiten, sondern geht _anlaßbezogen_ vor. Mit Abstellung auf das pseudonyme Merkmal der Akkreditierungsnummer wird außerdem die Daten- und Identitätshoheit des Mitglieds respektiert und gewahrt. Im Extremfall könnte ich die Akkreditierungsnummernverteilung durch unsere vorhandene Clearingstelle schleusen, dann wäre es selbst für die meisten innerparteilichen Funktionsträger unmöglich, das Pseudonym aufzulösen. Es steht dem Mitglied natürlich grundsätzlich frei, seinen Namen im Text seiner Beiträge zu nennen, hier müsste man lediglich die Möglichkeit schaffen, dass sich Leute nicht unbemerkt unter falschem Namen produzieren. Die Instanzierung der jeweiligen Software hilft uns dabei, den Parteitag und die mit ihm anfallenden Daten organisatorisch klar von anderen Daten abzugrenzen und ermöglicht damit die wirksame Umsetzung von gewünschter Behandlung dieser Daten. Soll heissen: wenn man wie beim Präsenzparteitag die Redebeiträge der Mitglieder in der Debatte gar nicht aufbewahren möchte, kann man die Diskussionen am Ende des Online-Parteitags einfach löschen (ja, löschen!). Wenn man hingegen bestimmte Dinge aufbewahren möchte, beispielsweise die extrahierten pro- und contra- Argumente, die genannt und damit auch berücksichtigt wurden, könnte man beispielsweise den Wiki-Arguments-Teil des Online-Parteitags archivieren bzw. als read-only-Medium irgendwo weiterhin online anbieten (ggf. nach Entfernung aller Akkreditierungsnummern). Bei Abstimmungen wird man ziemlich sicher eine Protokollierung der Auszählung wünschen und diese Möglichkeit ist ein klarer Vorteil gegenüber dem herkömmlichen Parteitag, auf dem die Versammlungsleitung sich mit farbig markierten Zweidrittelmehrheiten auch schonmal verschätzen kann. Offene Abstimmungen, insbesondere Meinungsbilder, sind auf dem Online-Parteitag grundsätzlich unproblematisch. Man kann dafür jegliche Software hernehmen. Wer jetzt an 'liquid feedback' denkt, dem sage ich, ja, aber dann bitte einen Fork (=eigene Programmversion), der keine Delegationen erlaubt, sozusagen ein 'direct feedback'. Dem Konzept nach ist die Lebensdauer dieser Softwareinstanz ja ohnehin auf 4-6 Wochen begrenzt. Am Ende des Onlineparteitags werden all diese Software-Instanzen dann eingefroren und entsprechend den Regeln behandelt. Alle Akkreditierungsnummern werden dann daraus gelöscht, selbst bei den Daten, die aufbewahrt werden - ganz ähnlich wie ich beim bisherigen Parteitag mein Bändchen in den Müll schmeiße.

Nun zum interessantesten Teil, den verbindlichen #Abstimmungen. Abstimmungen sollten (auch wenns keine Wahlen sind) grundsätzlich auch geheim erfolgen _können_, denn das Recht, eine geheime Abstimmung zu beantragen ist ein wichtiges Element des Minderheitenschutzes. An dieser Stelle klingt dem kundigen Piraten bereits der Begriff 'Wahlcomputer' in den Ohren. Kurz gesagt: wenn man wesentliche Schritte des Wahlablaufs in das Innere eines Computers verlegt, können diese Schritte vom Wählenden (und von Beobachtern) nicht mehr kontrolliert werden. Dies ist offensichtlich primär bei geheimen Abstimmungen wichtig, denn bei offenen Abstimmungen kann ich ja selbst sehen, wie meine Stimme gezählt wurde (ob Manipulation bemerkt wird, hängt dann allerdings immer noch von der Aufmerksamkeit aller Betreffenden ab). Zur Lösung dieses Problems schlage ich die dezentrale Abstimmung in den Gliederungen als ergänzendes Element des Online-Parteitages vor. Falls bestimmte Abstimmungen also geheim erfolgen sollen (beim letzten Parteitag in Bochum waren das wieviele?), bündelt man diese und läßt die Akkreditierten darüber in einem klassischen Papier-Verfahren in einem Rutsch abstimmen. Konkret würde das beispielsweise so aussehen: am Ende des vierwöchigen Online-Parteitags sind 3 Abstimmungen aufgetreten, die auf Antrag geheim erfolgen müssen. Dann wird in den designierten Gliederungen (zum Beispiel allen Landes- und Kreisverbänden) ein Verfahren angestossen, bei dem die Akkreditierten des Online-Parteitages zum Beispiel binnen einer Woche ihre Stimmabgabe gegenüber ihrer Gliederung vornehmen können. Die Akkreditierten selbst werden wie gehabt auf elektronischem Wege mit Informationen und ggf. Material versorgt. Wie bei herkömmlichen Wahlen könnte Briefwahl oder Abgabe zu festen Terminen des Wahllokals genutzt werden. In den Gliederungen kann auch Hilfestellung geleistet werden, übrigens nicht nur im Falle der geheimen Abstimmung sondern auch über die gesamte Zeit des Online-Parteitags. Die genauen Details dieses Unterpunktes 'geheime Abstimmung' hängen auch davon ab, ob man ggf. schon bei der Akkreditierung auf Dezentralisierung setzt, also sich beispielsweise bei den Landesverbänden akkreditiert, statt zentral. In einem solchen Fall würde die Akkreditierungsinformation (=die Menge aller vorhandenen Akkreditierungsnummern/-token) unter Umständen schon regional aufteilt vorliegen, so dass eine Art Wählerverzeichnis entsteht, dass zur Vorabkontrolle der Wahlberechtigung für den Fall der 'geheimen Abstimmung' dienen kann. Andernfalls müsste dies entweder auf zentraler Ebene kontrolliert werden, nachdem die Gliederungen ihre Stimmzettel eingesammelt haben, oder noch besser, man stellt den Gliederungen das Akkreditierungsregister zum Nachschlagen zur Verfügung. Unabhängig von diesem Vorschlag zur Dezentralisierung gibt es für die Kritiker natürlich auch weiterhin die Option, sich am Ende des Online-Parteitags für einen festen Tag irgendwo zentral zu einer Präsenzveranstaltung zu treffen und dort alle (oder einige) Abstimmungen ohne weitere Debatte vorzunehmen. Man sieht bereits, in diesem Bereich gibt es sehr viele Möglichkeiten der Gestaltung. Am Ende kommt es darauf an, aus den gewünschten Optionen einen Gesamtprozess zu basteln, der konsistent und robust ist, und die klassischen Anforderungen an eine geheime Abstimmung erfüllt. Ich denke, mit dem Gesagten ist bereits klar geworden, dass dies bei vertretbarem Aufwand absolut möglich ist.

Am Ende folgt eine saubere #Deakkreditierung und eine datenschutzgerechte Löschung bzw. anonymisierte Aufbewahrung aller für den Online-Parteitag angefallenen Daten je nach Anforderung. Dies ist wie gesagt ein wesentlicher Vorteil gegenüber allen bisherigen Vorschlägen zur ständigen Mitgliederversammlung und verhindert eine facebook-isierung unserer Partei bei gleichzeitigem Aufbau moderner internetgestützter Verfahren. Die Trennung von Mitgliederdatenbank der Partei und den versammlungsbezogenen Daten ist dazu der Schlüssel. Diese Trennung erlaubt dennoch die Einbeziehung auch parteiexterner Debattenelemente, denn über den gesamten Online-Parteitag hinweg können die Akkreditierten natürlich in unterschiedlichster Art und Weise auch auf existierende Beiträge im Internet verweisen (sei es durch Link, Copy/Paste etc.). Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass dieser Online-Parteitag öffentlich stattfinden wird, analog dazu, dass bisher ja auch in der Regel von den Parteitagen mit Zustimmung der Versammlung ein Livestream übertragen wurde. Grundsätzlich wären aber natürlich auch versammlungsinterne Bereiche möglich, ebenso wie wie bei Präsenzparteitagen. Abschliessend noch ein Wort zum sogenannten 'dezentralen Parteitag'. Dieser Begriff wird in der Piratenpartei bisher für dezentrale Präsenzparteitage benutzt, bei denen es an mehreren Orten gleichzeit Versammlungen gibt, die durch Kopplung von Video-Liveschaltungen gleichsam zu einer Versammlung werden. Ich denke, das hier von mir vorgestellte Konzept des Online-Parteitages bietet alle wesentlichen Vorteile jenes Konzeptes und noch mehr Vorteile. Gleichzeitig treten die wesentlichen kritischen Probleme aber gar nicht erst auf. Rechtlich gesehen ist das Ganze nach meinem bisherigen Wissensstand bemerkenswert unproblematisch, diese Debatte wird aber sicher noch im Detail geführt werden müssen.

Dieser Artikel soll als Auftakt einer Debatte fungieren, er ist daher nicht nur in meinem Blog veröffentlicht, sondern auch im Parteiwiki in meinem persönlichen Bereich, wo ich für mich Ergänzungen vornehmen werden (Link), sowie auf der Debattenhauptseite als Startbeitrag verlinkt. Dort bitte auch eure Beiträge verlinken, wenn ihr dazu bloggt oder anderweitig Stellung nehmt. Ich freue mich auf eine produktive Diskussion.

Jens

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