AG Migration/Anonymisierter Krankenschein für Papierlose

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Vorbemerkung

Im Krankheitsfall stehen Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus vor schwerwiegenden Problemen. Der Aufschub einer ärztlichen Behandlung führt in vielen Fällen zu einer Verschlimmerung und Chronifizierung von Erkrankungen. Dies könnte durch frühzeitige Maßnahmen verhindert werden.

Laut den Vereinten Nationen stellt das Recht auf den "besten erreichbaren Gesundheitszustand" ein Menschenrecht dar, welches unabhängig vom Aufenthaltsstatus jedem Menschen gleichermaßen zusteht. Deutschland unterzeichnete diesen Pakt 1976.

Offensichtlich wird dieses Recht jedoch nicht gewährt, so dass Menschen ohne gesicherten Aufenthaltstatus in Deutschland noch immer einen unzureichenden Zugang zum Gesundheitssystem haben. Die reduzierten medizinischen Leistungen nach AsylbLG wurden nicht zuletzt von der Bundesärztekammer kritisiert und abgelehnt.

Einleitung

Offiziell sind sie gar nicht hier, haben weder eine Aufenthaltsgenehmigung, noch einen angemeldeten Wohnsitz, eine Steuernummer oder eine Krankenversicherung. Sie können keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen und auch keine Sozialhilfe bekommen.

Trotzdem leben sie in Deutschland, in jeder Großstadt. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Ihr Leben ist bestimmt von der Angst, entdeckt zu werden. Jeder Behördenkontakt würde zur Abschiebung führen. Bei Rot über die Ampel zu gehen kann zum Schicksalsschlag werden, wird man von der Polizei erwischt.

Ähnlich sieht es bei der Gesundheitsversorgung aus. Zwar haben Papierlose einen rechtlichen Anspruch auf medizinische Notversorgung, der sich aus dem Asylbewerberleistungsgesetz ergibt. Doch bereits per Gesetz ist diese Versorgung auf das Nötigste eingeschränkt. Und faktisch gibt es überhaupt keinen freien Zugang für Papierlose zu einer medizinischen Versorgung: das Problem liegt in der Bezahlung der medizinischen Leistungen. Denn dafür wären die Sozialämter zuständig, die wiederum verpflichtet sind, Papierlose der Ausländerbehörde zu melden. Eine verhängnisvolle Kettenreaktion, die mit der Abschiebung enden kann.


Konzept

Ziel

Ziel ist es, Menschen ohne Aufenthaltsstatus die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen nach dem AsylbLG zu ermöglichen, ohne sie durch die Datenweitergabe zu gefährden.

Die grundsätzliche Kritik am AsylbLG sowie die Forderung nach Eingliederung aller Bedürftigen in das Sozialrecht unabhängig vom Aufenthaltsstatus bleibt davon selbstverständlich unberührt. Die reduzierten medizinischen Leistungen nach AsylbLG §4 und §6 (vgl. oben) sind wiederholt von der Bundesärztekammer kritisiert und als dem ärztlichen Gleichbehandlungsauftrag zuwiderlaufend abgelehnt worden.

Die reduzierten Leistungen bei Unterbringung und Verpflegung führen darüber hinaus zu weiteren gesundheitlichen Belastungen. Doch: zumindest diese unter dem Sozialhilfeniveau liegenden gesetzlich definierten Leistungen sollten auch Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus ohne Angst vor Abschiebung in Anspruch nehmen können.

Verfahren

Anlaufstelle zur Vergabe des anonymen Krankenscheins sollten Gesundheitsämter bzw. Stellen des öffentlichen Gesundheitswesens unter ärztlicher Leitung sein. Zum Team sollte eine SozialarbeiterIn mit guten Kenntnissen im Ausländerrecht gehören. Hier erfolgt die Datenerhebung und Bedürftigkeitsprüfung unter Schweigepflicht. Die Bedürftigkeitsprüfung erfolgt analog §4 und §6 des AsylbLG. Im Anschluss werden die anonymen Krankenscheine ausgegeben. Für die Bedürftigkeitsprüfung ist ein Kooperationsvertrag mit dem Sozialamt erforderlich, da die Anlaufstelle die Aufgaben des Sozialamtes in dessen Auftrag wahrnimmt.

Aufgrund der ärztlichen Leitung steht die Anlaufstelle unter Schweigepflicht. Die ernsthafte Bedürftigkeitsprüfung muss dort analog zum Vorgehen im Sozialamt stattfinden. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass die Bedürftigkeitsprüfung sich weniger auf schriftliche Dokumente (Mietvertrag, Arbeitsvertrag, Kontoauszüge etc.) stützen kann, vielmehr muss die Vergabestelle eine „gate keeper“-Funktion erfüllen. Dazu gehört ein ausführliches Interview mit den Betroffenen über deren Lebenssituation und finanziellen Verhältnisse. Dies muss dokumentiert werden, die Dokumentation verbleibt bei der Vergabestelle. Alle erhobenen Daten unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht. Wenn irgendwie möglich, sollte ein Personaldokument vorgelegt werden. Bei schweren Erkrankungen und/oder Reiseunfähigkeit kann oft eine Duldung beantragt werden. Durch die Integration einer Rechtsberatung können die Möglichkeiten einer Legalisierung erörtert werden. Eine „Hotline“ zur Ausländerbehörde, mit der Fälle auch anonym vorab besprochen werden könnten, würde der Beratungsstelle das Ausloten verschiedener Handlungsoptionen gemeinsam mit den Betroffenen ermöglichen.

Dadurch könnten Menschen für eine Aufenthaltslegalisierung erreicht werden, die bisher eine Offenbarung bei der Ausländerbehörde gescheut haben und Illegalität insgesamt könnte verringert werden.Die Vergabestelle erfüllt auch eine „case-manager“-Funktion. Sie kann für die PatientInnen Termine in Arztpraxen ausmachen bzw. für die Beschwerden spezialisierte ÄrztInnen / medizinische Einrichtungen empfehlen. Mit dem nummerierten anonymen Krankenschein kann der oder die Betroffene dann jeden Arzt / jede Ärztin, jede Praxis oder jedes Krankenhaus aufsuchen. Der Krankenschein gilt für ein Quartal. Bei einer späteren Wiedervorstellung kann auf die ursprüngliche Dokumentation zurückgegriffen werden, und nur noch Veränderungen der Lebenssituation müssen erfragt werden.


Abrechnung

Die Abrechnung der ambulanten Behandlung mit dem anonymen Krankenschein erfolgt analog zur Abrechnung der Sozialämter nach dem AsylbLG. Alternativ wäre auch denkbar, dass die Vergabestelle abrechnet und die Kosten dann insgesamt dem Sozialamt in Rechnung stellt. Dieses Vorgehen wäre für die Vergabestelle jedoch aufwendiger.

Auf den Einweisungsscheinen und Rechnungen stehen keine Namen, sondern anonymisierte Codes. Um eine adäquate Rechnungsprüfung der erbrachten Leistungen zu ermöglichen, müssen Geschlecht und Geburtsjahr des/der PatientIn ersichtlich sein.

Vergabestelle

Als Vergabestellen sind Gesundheitsämter bzw. Stellen des öffentlichen Gesundheitswesens unter ärztlicher Leitung geeignet, die bereits Erfahrung mit der Arbeit mit MigrantInnen haben und bei diesen als vertrauenswürdig bekannt sind.

Das Personal verfügt über sozialpädagogisches Know-how, und die Ratsuchenden können gleichzeitig mit Präventionsangeboten erreicht werden. Dadurch können wiederum langfristig Kosten gesenkt werden. Um den oben skizzierten Aufgaben der Bedürftigkeitsprüfung, der gate-keeper-Funktion und des Case Managements gerecht zu werden, müssen zusätzliche Sozialarbeiterstellen eingerichtet werden. Sowohl in der Anlaufstelle als auch zur Begleitung der PatientInnen während der medizinischen Behandlung ist in manchen Fällen Sprachmittlung erforderlich.

Kosten

Die Kostenplanung des Modellprojektes ist nur bedingt möglich, da unbekannt ist, wie viele Menschen sich ohne Aufenthaltsstatus hier aufhalten und wie viele das Projekt in welchem Umfang in Anspruch nehmen werden. Da die Betroffenen einen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG haben, den sie bisher nur wegen der Gefahr der Datenweitergabe nicht in Anspruch nehmen, geht es nicht um freiwillige Leistungen der Kommune, sondern um gesetzlich abgesicherte Verpflichtungen. Für eine annähernde Kostenschätzung kann auf die Zahlen der bisherigen Hilfsstrukturen zurückgegriffen werden. Für Berlin z.B. werden durch das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe jährlich rund 1000 PatientInnen vermittelt. Die Malteser Migranten Medizin hat im Jahr 2007 3100 Menschen versorgt1. Die bisherigen Ergebnisse einer Erhebung des Diakonischen Werks gehen von 6000-22 000 Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Hamburg aus2. Unter Kenntnis der durchschnittlichen lokalen Krankheitskosten nach AsylbLG können auf dieser Basis Modellrechnungen angestellt werden. Wie viele Personen tatsächlich eine geschützte Vermittlung von Krankenscheinen in Anspruch nehmen würden, bleibt letztendlich jedoch nicht berechenbar. Aufgrund der Schwellenangst kann die Inanspruchnahme sogar geringer sein als bei den bereits bekannten Hilfsangeboten. Für eine valide Kostenplanung sind noch zu viele Daten unbekannt. Gerade darin liegt auch eine Funktion des Projektes:

Über einen definierten Zeitraum kann evaluiert werden, wie hoch der tatsächliche Bedarf und der benötigte Finanzrahmen ist. Dies ermöglicht den politischen Verantwortungsträgern, eine verlässliche Bedarfsplanung von Gesundheitsleistungen für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus vorzunehmen. Durch eine zeitgerechte und adäquate medizinische Versorgung können chronische Verläufe und daraus resultierende Notfälle vermieden werden – das spart Krankenhauskosten, die bereits jetzt von den Sozialämtern übernommen werden müssen.

Evaluation

Darüber hinaus ist eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluation des Modellprojektes sinnvoll. An dieser Stelle kann eine Kooperation mit WissenschaftlerInnen z.B. aus dem Public Health Bereich erfolgen.

1www.malteser.de/73.Malteser_Migranten_Medizin/73.04.Links_Materialien/Erfahrungsbericht2007_final.pdf

2 Süddeutsche Zeitung 29./28.8.09, Seite 6