2011-04-28 - Bundesvorstandssitzung/Brief-GenethischesNetzwerk

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Offener Brief zum Tag des Grundgesetzes: DNA-Sammelwut stoppen!

Sehr geehrte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,

anlässlich des heutigen Tages des Grundgesetzes fordern wir Sie dazu auf, gegen die Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aktiv zu werden - und zwar im Bereich der biologischen Vorratsdatenspeicherung, konkret: der polizeilichen Speicherung von DNA-Profilen. Sie haben sich in der Vergangenheit wiederholt gegen die „präventive Ausweitung der DNA-Erfassung“ 1 ausgesprochen und dagegen, dass „der Verdachtsmoment und der Zugriff des Staates auf den Einzelnen sehr weit nach vorne verlagert wird“.2 Die DNA-Überwachung heute hat diese problematischen Dimensionen längst angenommen. DNA-Proben werden bei jeder sich bietenden Gelegenheit, etwa beim Verdacht eines Bagatelldeliktes oder im Rahmen von Massengentests, entnommen. Die Zahl der in den DNA-Datenbanken der Kriminalämter von Bund und Ländern gespeicherten DNA-Profile wächst beständig, und die Datenspeicherung wird schlecht kontrolliert. Es ist höchste Zeit, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Wir unterzeichnenden Organisationen und Einzelpersonen nehmen Sie beim Wort und fordern Sie heute dazu auf, dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung Geltung zu verschaffen. Wir lehnen die zentrale Speicherung von aus Körperspuren gewonnenen Daten als gefährliches überwachungsstaatliches Instrumentarium prinzipiell ab. Unser Ziel ist die Auflösung aller polizeilichen DNA-Datenbanken. Folgende Korrekturen der derzeitigen Praxis sind aus unserer Sicht zwingend erforderlich:

1. Eine Revision des grundrechtlich höchst problematischen Gesetzes von 2005 Die drastische Expansion der DNA-Datenbank beim Bundeskriminalamt (BKA) geht auf eine Gesetzesreform von 2005 zurück. Seitdem kann die DNA von Beschuldigten auch bei Bagatelldelikten gespeichert werden, wenn sie als Wiederholungstaten gelten. Außerdem ermöglicht die Reform, DNA auch ohne richterliche Anordnung zu analysieren und das Profil zu speichern - wenn die Betroffenen „freiwillig“ zustimmen. Die Bedingungen dieser Freiwilligkeit sind oft mehr als fragwürdig, etwa in Verhörsituationen. Auf diese Weise umgehen die Behörden laut Erhebungen von Datenschutzbeauftragten bei weit mehr als 90 Prozent der DNA-Entnahmen eine richterliche Anordnung. Die Gesetzesreform hat so zu einer Situation geführt, in der sich nur noch weniger als vier Prozent der Datenbanktreffer auf schwere Straftaten wie Sexualdelikte, Körperverletzung, Freiheitsentzug und Mord beziehen. Die DNA-Analyse droht zum polizeilichen Alltagsverfahren zu werden. Wir fordern Sie deshalb auf: Nutzen Sie Ihre Amtszeit, um eine Revision des Gesetzes anzugehen!

2. Eine unabhängige, umfassende und regelmäßige datenschutzrechtliche Kontrolle der DNA-Analyse-Datei beim Bundeskriminalamt (BKA): Inzwischen sind mehr als 700.000 DNA-Personen-Profile in der zentralen Datenbank des BKA gespeichert. Bislang wird die Rechtmäßigkeit der Speicherung nur selten und stichprobenartig von Datenschutzbeauftragten geprüft. Eine solche Überprüfung durch den Landesdatenschutzbeauftragten Baden-Württembergs im Jahr 2007 brachte ans Licht, dass gesetzliche Bestimmungen gravierend verletzt worden waren. Mehr als 40 Prozent der DNA-Profile, deren Speicherung die Datenschützer auf ihre Rechtmäßigkeit hin untersucht hatten, mussten gelöscht werden. Auch Verfassungsbeschwerden haben immer wieder Erfolg, wenn sie sich gegen die Speicherung von DNA-Profilen in der BKA-Datenbank richten. Eine regelmäßige und unabhängige Kontrolle der Datensammlung ist deshalb ebenso erforderlich wie die sofortige Löschung nicht rechtmäßig gespeicherter DNA-Profile. Wir fordern Sie auf: Setzen Sie umgehend die funktionierende und unabhängige Kontrolle der Polizei auf die Tagesordnung!

3. Ein Verbot der Ermittlung von Verwandtschaftsbeziehungen oder persönlichen Eigenschaften mithilfe von DNA-Proben und -Daten. Die aktuelle Gesetzeslage erlaubt es, DNA-Profile für die Identifizierung einer Person einzusetzen. Diese Profile werden anhand von Abschnitten auf der DNA erstellt, die als nicht-kodierend gelten, aus denen also keine Rückschlüsse auf körperliche Eigenschaften möglich sein sollen. Seit 2005 darf darüber hinaus auch die Information über das chromosomale Geschlecht gespeichert werden. Durch eine Analyse der so genannten kodierenden DNA-Abschnitte auf weitere Eigenschaften zu schließen, ist vom Gesetz zwar bisher nicht gedeckt. In der humangenetischen Forschung wird jedoch die Unterscheidung zwischen „kodierenden“ und „nicht-kodierenden“ DNA-Abschnitten zunehmend brüchig. Es ist zu befürchten, dass DNA-Profile für die Gewinnung von immer mehr Informationen eingesetzt werden. Schon heute legen so genannte partielle Treffer - wenn Datensätze beim Suchlauf in den polizeilichen Datenbanken teilweise übereinstimmen – Verwandtschaftsbeziehungen offen. Technisch kann das durch eine Speicherung der DNA-Profile in digitalen Codes („Hashes“) verhindert werden. Wir fordern Sie auf: Arbeiten Sie an einer Regelung, die Rückschlüsse auf körperliche Eigenschaften aus DNA-Proben im Rahmen polizeilicher Ermittlungen nachhaltig verhindert!

4. Die Verhinderung des globalen DNA-Datenaustausches. Zentrale polizeiliche DNA-Datenbanken gibt es bereits in 56 Staaten. Zunehmend wird ihre Vernetzung vorangetrieben - trotz international heterogener Datenschutzbestimmungen. Der sogenannte Prozess von Prüm zur Verschaltung der europäischen Datenbanken ist bereits in Richtlinien der Europäischen Union (EU) verankert; zugleich stellte erst jüngst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fest, dass die britische Polizei mit ihrer DNA-Datenbank das Grundrecht auf Datenschutz sehr weitgehend verletzt hat. Schon allein deshalb muss die Vernetzung der DNA-Analysedatei beim Bundeskriminalamt mit DNA-Datenbeständen anderer Länder sofort eingestellt werden. Wir fordern Sie auf: Setzen Sie sich dafür ein, Projekte wie den transatlantischen Datenaustausch mit den USA im Rahmen bilateraler Abkommen und im Rahmen des Stockholmer Aktionsprogramms der EU zu stoppen!

Unsere Grundsatzforderung ist die Auflösung aller polizeilichen DNA-Datenbanken. Die dahinter stehende präventive Logik untergräbt im Namen einer zweifelhaften „Sicherheit“ nicht nur stetig und nachhaltig Grundrechte: Dass Personen, die einmal beschuldigt oder verurteilt wurden, für Jahre oder Jahrzehnte überwacht und kriminalisiert werden, widerspricht dem Grundsatz der Rehabilitation; auch die Unschuldsvermutung wird zur Farce, etwa in Massengentests. Die Logik polizeilicher DNA-Datenbanken verschleiert gesellschaftliche und soziale Bedingungen von Straftaten: Die permanente Ausweitung der DNA-Datenspeicherung auf Bagatelldelikte wie etwa Diebstahl führt dazu, dass sozial weniger privilegierte und marginalisierte Bevölkerungsschichten erfasst werden. Je weiter sich die Logik dieser Praktiken gesellschaftlich verbreitet, desto plausibler und durchsetzungsfähiger wird eine Totalerfassung der Bevölkerung, wie sie von Rechts- und Innenpolitikern gelegentlich schon gefordert worden ist.

Mit unserer Kampagne „DNA-Sammelwut stoppen!“ werden wir in den kommenden Wochen und Monaten an vielen Orten präsent sein, um Sie und andere PolitikerInnen an diese Forderungen zu erinnern. Handeln Sie jetzt! Stellen Sie sich gegen die permanente Erosion der Grundrechte!

DNA-Sammelwut der Polizei stoppen!

Mit erwartungsvollen Grüßen,


www.fingerwegvonmeinerDNA.de.

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Anmerkung: Individuen können die Petition bis 18.11.2011 unter diesem Link unterzeichnen. Die dortige (aktuellere) Version des Textes weicht von der von der Piratenpartei am 28. April 2011 unterzeichneten obigen Version an einigen Stellen ab.