Archiv:2010/Jugendmedienschutz-Staatsvertrag/Alterskennzeichnung funktioniert nicht

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Dieser Text als PDF: Datei:JMStV14 ist jugendgefährdend.pdf Der 14. Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) ist jugendgefährdend. Artikel zur Gefahr auf die Alterskennzeichnung zu vertrauen. (Version vom 15. Sep. 2010)

-- Kreon 18:28, 16. Sep. 2010 (CEST)

JMStV erst ab 18?

Der 14. Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) ist jugendgefährdend.

Mit der Neuauflage des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV) wird eine Alterskennzeichnung im Internet eingeführt. Ziel ist, dass Jugendschutzprogramme – das sind Internetfilter für Familien mit Kindern, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen – Internetseiten nach dieser Kennzeichnung filtern können, um so auf einfache Art und Weise ein kindgerechtes Internet bereitstellen zu können. Als geeignet gekennzeichnete Webseiten werden angezeigt, Webseiten ab einer nicht geeigneten Altersstufe nicht. Ein scheinbar einfaches System.

Leider funktioniert das System nur mit zwei entscheidenden Voraussetzungen:

  1. Eine große Anzahl an Webseiten muss die Alterskennzeichnung vornehmen, da nicht gekennzeichnete Webseiten nur vereinzelt oder gar nicht als kindgerecht erkannt werden können. Letzteres betrifft z.B. ältere Internetangebote, die meisten ausländischen Webseiten, private Homepages, Wikipedia etc.
  2. Das System macht nur Sinn, wenn die Jugendschutzprogramme der Alterskennzeichnung trauen können. Innerhalb von Deutschland soll die Durchsetzung entsprechender Gesetze dafür sorgen.

Die direkte Gefahr

Ein Jugendschutzprogramm kann allerdings nicht unterscheiden, ob eine Internetseite dem deutschen Gesetz unterliegt oder nicht. Eine ".de"-Domain ist kein ausreichender Indikator dafür. Das Jugendschutzprogramm wird also auch die Alterskennzeichnung ausländischer Webseiten akzeptieren. Diese Webseiten – außerhalb des deutschen Rechtsraums gelegen, jedoch womöglich auch in deutscher Sprache – können für das entsprechende Alter nicht geeignete Inhalte enthalten.

Anders als Maßnahmen gegen Kopierrechtsverstößen, Markenrechtsverstößen oder Kinderpornographie ist die korrekte Alterskennzeichnung nicht international durchsetzbar. Es fehlt die Lobby der Markenrechtler und das Selbstverständnis bzgl. Kinderpornographie, denn es handelt sich nur um eine auf Deutschland begrenzte Kennzeichnungspflicht. Die Angebote an sich dürften meist legal sein. Zudem sind Altersgrenzen und Kriterien bzgl. Jugendschutz international sehr unterschiedlich.

Fazit: Befindet sich eine Webseite außerhalb des deutschen Rechtsraums, kann sie völlig legal falsche Alterskennzeichnungen liefern, die die Jugendschutzprogramme dennoch akzeptieren werden.

Doch warum sollte man absichtlich falsch kennzeichnen?

  1. Die Kennzeichnung "in Deutschland ab 0 Jahre geeignet" wird sich als selbstverständliche Optimierungsmaßnahme für Webseiten auf der ganzen Welt etablieren. Denn ohne Alterskennzeichnung würden die Seiten in Deutschland gefiltert, die richtige Auszeichnung nach Kriterienkatalog wäre jedoch zu aufwändig.
  2. Computerspiele oder Internetfilme, die in Deutschland erst ab 16 oder 18 freigegeben würden, können sich so zusätzliche Zielgruppen erschließen.
  3. Glücksspielseiten und viele weitere Branchen können sich so ebenfalls zusätzliche Zielgruppen unter 18 oder 16 Jahren erschließen.
  4. Dazu kommen eventuell zahlreiche Seiten mit Echtzeitkommunikation und User-Content. Soziale Netzwerke, Foren und andere Seiten, die auf Individualkommunikation und von den Nutzern selbst erstellten Inhalten basieren, lassen sich nur schwer mit einer geeigneten Alterskennzeichnung versehen und könnten auf den oben genannten Trick angewiesen sein, um weiterhin die begehrte Altersgruppen unter 18 bedienen zu können. Der Markt wird hier geeignete und völlig legale Wege finden. [1]

Das gefährliche daran ist nicht, dass die zuvor aufgezählten Seiten existieren, sondern dass die Jugendschutzprogramme und mit ihnen Eltern, Schulen und öffentliche Einrichtungen den Seiten blind vertrauen müssen. Täten sie es nicht, könnte man die ganze Alterskennzeichnung auch verwerfen. So wird jedoch aus dem scheinbar sicheren Medium ein beschnittenes Medium – allerdings ohne die erhoffte Sicherheit.

Die indirekte Gefahren

Problematisch für die Entwicklung der Jugendlichen ist nicht nur die Gefahr, nicht-altersgerechten Inhalten ausgesetzt zu werden. Durch den sehr eingeschränkten Zugang zum Internet erhalten Kinder und Eltern nicht die Chance, den Umgang mit einem offenen Netz zu lernen und eine entsprechende Medienkompetenz zu erwerben. Die notwendige Diskussion über Inhalte im Netz und ein pädagogisch sinnvoller Lernprozess werden durch eine bequeme aber für die Erziehung ungeeignete Maßnahme ersetzt.

Der Erwerb von Medienkompetenz bezüglich Internet wird den Kindern zusätzlich dadurch erschwert, dass sie in der Schule, öffentlichen Einrichtungen und eventuell im Elternhaus von wichtigen Inhalten des Internets ausgeschlossen werden. Der volle Zugriff auf die Wikipedia dürfte verwehrt bleiben, denn niemand kann über eine Millionen Artikel nachträglich kennzeichnen. Ältere und ausländische Webseiten bleiben ebenfalls außer Reichweite, so dass in vielen Schulfächern eine sinnvolle Internetrecherche nicht möglich sein wird. [2]

Darüber hinaus werden vor allem kommerzielle Webseiten die Alterskennzeichnung vornehmen [3] und somit erhalten die Kinder einen einseitigen Blick auf das aktuelle, kommerzielle (werbefinanzierte), deutsche Internet. Die internettypische Medien- und Meinungsvielfalt wird dadurch stark eingeschränkt, echte Netzbildung ausgeschlossen.

Die Tendenz zur Umgehung von Filtern ist umso größer, je stärker die Einschränkungen sind: Aus der starken Restriktion bezüglich der verfügbaren Seiten ergibt sich demnach zusätzlich die Gefahr, dass sich Möglichkeiten zur Umgehung des Filters schnell verbreiten. Ein mit "ab 0" gekennzeichneter ausländischer Dienst, der jede Seite kopieren und anzeigen kann, genügt.

Was bringt die geplante Regelung?

Viel Aufwand für nichts: Die Betreiber von Internetseiten werden versuchen, ihre Webseiten entsprechend zu kennzeichnen. Dies betrifft auch private Homepages, die sich dadurch allerdings der Gefahr aussetzen, Abmahnungen zu erhalten: Eine Fanpage zu einem Computerspiel "ab 16" oder die unbedacht eingefügte Kinderseite in einen Kontext "ab 12" sind bereits entsprechende Stolperfallen.

Altersabstufungen sind bei Mischungen aus User-Content und privater Kommunikation schwierig. Große kommerzielle Anbieter können sich dafür vermutlich Auflagen einer FSK unterwerfen. Andere als "Web 2.0." bezeichnete Internetangebote werden in Deutschland Erwachsenen vorbehalten bleiben oder verschwinden.

Womöglich können sich jedoch weiterhin – trotz des hohen Aufwands auf Seiten der Websitebetreiber – die Jugendschutzprogramme nicht durchsetzen. Dann besteht die Gefahr, dass sich das deutsche Internet der Alternative "Sendezeiten" unterwerfen muss. Ein nicht minder blödsinniges Kuriosum weitab jedes Internetverständnisses.

Viele Grüße, -- Kreon 18:28, 16. Sep. 2010 (CEST)


Fußnoten

[1] Eine Sperrung dieser Seiten für Deutschland und der dadurch notwendige Aufbau einer Zensurinfrastruktur hingegen, würde jede Verhältnismäßigkeit sprengen.
[2] Letzteres trifft bereits auf heutige in Schulen eingesetzte Jugendschutzfilter zu, allerdings in wesentlich geringerem Ausmaß. Die meisten Programme filtern nach Stichworten, so dass derzeit oft z.B. die Bibel oder historische Darstellungen gesperrt sind.
[3] Die Regelungen bezüglich der Bevorteilung von Mitgliedern der FSK fördern dies. Doch auch die Selbstbeurteilung könnte private Anbieter und Kleinanbieter überfordern.



Kurzfassung

von bodomskind (http://piratenpad.de/dkdvN1DRLe)

Der 14. JMSTV gaukelt einen höheren Jugendschutz im Internet lediglich vor. Er baut darauf, dass jeder Betreiber einer Website diese so einstellt, dass eine Alterseinstufung mit gesendet wird, die dann beim Surfer von einem speziellen Programm erkannt wird und je nach Einstellung herausgefiltert wird.

Seiten die keine solche Einstufung mitliefern, würden für Jugendliche komplett herausgefiltert werden, da der Einsatz der Software sonst gar keinen Sinn machen würde.

Die Frage die sich dann stellt ist aber: Was ist mit Seiten, die sich nicht um deutsche Gesetzgebung scheren oder sie nicht kennen? Deren Betreiber und deren Server im Ausland stehen, wo kein deutsches Gesetz greift, dass sie zwingen könnte, diese Einstufung gewissenhaft vorzunehmen?

Betreiber aus dem Ausland könnten aus Unkenntnis oder aus Bequemlichkeit ihre Alterseinstufung auf null setzen, damit diese Seiten immer erreichbar sind und blieben von jeglichen wirksamen rechtlichen Konsequenzen verschont. Ein halbwegs verlässlicher Schutz kann daher nur Seiten in Deutschland einschließen, das Internet ist aber global und nicht national.

Ein weiteres Problem ergibt sich bei Echtzeikommunikation. Sie kann nicht wirklich gekennzeichnet werden, die ganze Funktion müsste herausgefiltert werden, wenn nicht sogar der Anbieter selbst geblockt werden. Der würde sich dann aber eben aus dem Durchsetzungsbereich entfernen.

Selbst eine nur in Deutschland durchgeführten Filterung hätte immer noch das Problem des eingeschränkten Zugriffs. Es müssten beispielsweise ganze Enzyklopädien wie Wikipedia durchforstet und jeder Eintrag einzeln gekennzeichnet werden, wenn man ein wertvolles Nachschlagewerk nicht komplett den Kindern und Jugendlichen vorenthalten will - eine Mammutaufgabe.