Notenfrei
Inhaltsverzeichnis
Notenfreie Schulen
1.1 Kernthese
Es gibt keine dummen Kinder. Es gibt aber eine Leistungsbewertung in den Schulen durch Noten, die uns das glauben lässt. (Sabine Czerny) Kleine Kinder verlieren schon die Lust am Lernen. Eltern fühlen sich Ohn-mächtig. Schule ist hauptsächlich Stress, Angst und Tränen statt Freude, Gelingen und Anerkennung. Deshalb wird es allen staatlichen wie privaten (anerkannten oder geneh-migten) Schulen freigestellt, wie sie ihre Leistungsbeurteilung vornehmen.
1.2 Unsere Position
1) Die Verpflichtung zur Leistungsbewertung durch Noten in Schulen ist aufzuheben. Wir brauchen eine potentialorientierte, einladende, ermuti-gende und nachvollziehbare Leistungsbeurteilung, die den Entwick-lungsstand der Kinder spiegelt, fördert und herausfordert. 2) Alle Regelungen, die Schulübergänge durch Noten regeln, sind zu er-setzen durch qualitative Beurteilungsformen, die in einem dialogischen Verfahren zwischen den Verantwortlichen (Lehrkräfte & Erziehungsbe-rechtigten) und Betroffenen (Kindern, Jugendlichen, Volljährigen). 3) Neben dem notenbasierten Abitur sind Hochschulzugangsberechtigun-gen (Schulabschlüsse ohne Abiturzeugnis) zuzulassen, die ein studien-reifes Kompetenzprofil erkennen lassen.
1.3 Argumente dafür
a) Notenfreie Schulen übernehmen selbst die Verantwortung dafür, dass die ihnen anvertrauten Kinder lerntyporientiert lernen, was in den Lern-zielen niedergelegt ist. b) Es wird wieder über Inhalte (Was hast Du gelernt?) gesprochen und nicht über Bewertungen (Welche Note hast Du?). c) Gewertschätzt wird nicht mehr Anpassung an Vorgegebenes sondern Entwicklung von Eigenem oder Gemeinsamen. d) Notenfreie Schulen müssen sich keiner gleichgeschalteten Leistungs-erhebung (Schulaufgaben, Extemporalien etc.) unterwerfen. Damit fal-len die darin liegenden bloßstellenden und demütigenden Bewertungen und Ausleseformen weg. Stattdessen sind die Kinder und Jugendlichen dabei zu unterstützen, dass sie (allgemein anerkannte) Lernziele für bestimmte Altersstufen oder Entwicklungsphasen erreichen können und diesen Erreichungsgrad selbst dokumentieren (z.B. Kompetenzportfolio, Lernpass etc.). Dies kann sich in einem Punkte oder Modulsystem ab-bilden. e) Der „Fehler“ wird wieder rehabilitiert als Lernchance und wird somit Ausgangspunkt von Kompetenzbildung. f) Notenfreie Schulen können Übergangsberechtigungen qualitativ und in einem dialogischen Verfahren mit den Verantwortlichen und Betroffenen gestalten. g) Angstorientierte Einzelleistungsprüfungen werden ersetzt durch projekt- und teamorientierte Kompetenzbildung mit individualisierter Kompe-tenzfeststellung. Prüfungen sind Schwellen. Wenn man diese überwin-den kann ohne Angst, Versagen oder Stress fördert dies die Selbst-kompetenz (Salutogenese) h) Notenfreie Schulen sind frei, die Lernorientierung ihres Lernangebots ohne quantifizierende und gleichmachende Zwänge zu gestalten und zu evaluieren. i) Lehrerinnen und Lehrer verlieren ihre Rolle als übergeordnete, dem Machtmissbrauch durch ein intransparentes Notensystem ausgelieferte Bewerter und Bewerterinnen, sie können ihre Kompetenz als Lernbe-gleiter entwickeln und ausüben. Sie erhalten selbst Feedback von den Schülerinnen und Schülern, damit sie ihr Unterstützungsangebot ver-bessern und entwickeln können. j) Eine einengende Reduktion auf Funktions-/Rollenzuschreibungen (Ein-ser-/Fünfer-SchülerIn) sowohl in der Selbst- wie im Fremdeinschätzung entfällt und räumt den Blick frei auf den ehrlich interessierten Leis-tungsstand und Lernbedarf der Kinder und Jugendlichen. Wer verglei-chen will, soll vergleichen können - jedoch nicht aufgrund von quantifi-zierenden Maßstäben sondern aufgrund einer selbst zu leistenden qua-litativen und nachvollziehbaren Urteilsbildung. Ergebnisse, die aus dem Kontext gerissen sind, sind für niemand nachvollziehbar (Vergleiche mal ein Mathe 2 aus Hessen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg) k) Notenfreie Schulen können endlich in ihre Leistungsbeurteilungen auch die Selbst-, Sozial-, Methoden- und Handlungskompetenzen mit einflie-ßen lassen, welche durch eine Reduktion auf quantifizierende Noten und Fachkompetenzorientierung nicht zur Erscheinung kamen. l) Schulen übernehmen die Verantwortung dafür, das Schülerinnen und Schüler was Lernen und auf ihrem Weg die Lernziele (eigene, länder-spezifische, bundesweite, europäische oder internationale) erreichen, SchülerInnen haben oder lernen, die Verantwortung für ihre Bildung zu übernehmen. m) Leistungsbeurteilungen bilden sich in redlicher Selbst- und Fremdein-schätzung und entwickeln die Urteilskraft (Beurteilungskompetenz) aller Beteiligten.
1.4 Zusammenfassung
Es gibt keine dummen Kinder. Es gibt aber eine Leistungsbewertung in den Schulen durch Noten, die uns das glauben lässt. Wir brauchen eine potentialorientierte, einladende, ermutigende und nach-vollziehbare Leistungsbeurteilung, die den Entwicklungsstand der Kinder spiegelt, fördert und herausfordert. Alle Regelungen, die Schulübergänge durch Noten regeln, sind zu ersetzen durch qualitative Beurteilungsformen, die in einem dialogischen Verfahren zwischen den Verantwortlichen und Betroffenen. Diese können durch Kompetenzfeststellungstests sowie kurzen qualitativen Einstufungen in den wichtigen Kern- oder berufsrelevanten Fächern bzw. transparenten Anfor-derungskriterien der weiterführenden "Ausbilder" begleitet werden.
1.5 Appell
Schluss mit den Noten, die frustrierte Lernenden, ohnmächtige Eltern und Lehrkräfte, Stress, Angst und Tränen verursachen. Wir wollen die Lern-freude der Kinder erhalten und fördern. Wir wollen eine für alle nachvoll-ziehbare Leistungsbeurteilung. Wir wollen keine selektierenden Schulab-schlüsse sondern wertschätzende Bildungsaufschlüsse Ausgangspunkt des Lernens werden wieder die Schülerinnen und Schüler, das Lernfeuer entfacht und keine Eimer mehr für alle gleich zum gleichen Zeitpunkt gefüllt. Nichtssagende Schulabschlüsse werden zu vielsagenden Bildungsauf-schlüssen.
1.6 Risiken
a) Lehrkräfte lernen selbst nicht. b) Lehrkräfte verstehen nicht, was Lernbegleitung ist. c) Lehrkräfte verschließen vor der Vielfalt und Heterogenität weiterhin die Augen und wollen ihre Methoden und Beurteilungssysteme nicht um-stellen. d) Lehrkräfte bewerten weiterhin fleißig (gut-schlecht, richtig-falsch) und verweigern sich, Urteilsbildung, Kompetenzfeststellung und helfende Gespräche zu lernen. e) Schulleitungen unterstützen diesen Wandel nicht. f) Lehrkräfte haben selbst Angst, mit Erwachsenen kommunizieren. g) Lehrkräfte verurteilen sich selbst für ihre eigenen Fehler. h) Eltern brauchen die Schulnoten, um ihre Kinder damit zu disziplinieren. i) Eltern brauchen gewohnte und simple Vergleichsmodelle, um ihre Kin-der zu Leistungen zur ermutigen. j) Eltern fragen lieber nach Noten als nach den Lerninhalten. k) SchülerInnen haben sich das Bild vom faulen, bequemen, widerständi-gen Kind und Jugendlichen zu eigen gemacht, der nur aus dem perma-nenten Vergleich mit dem Besten lernt. l) SchülerInnen akzeptieren weiterhin wie ihre Eltern die willkürlichen No-teneinstufungen m) SchülerInnen werden keine PiratInnen - sie halten weiterhin ihren Mund vor den Ungerechtigkeiten des Notensystems aus Angst vor Bloßstel-lung, Versagensängsten, nicht gewertschätzt zu werden
1.7 Argumentationshilfen als optionaler Anhang
Durch das Notensystem werden folgende Kontrollparameter im Bildungs-system zementiert und gesteuert: 1) 1. Kontrolle der Übergänge (Zulassungsberechtigungen) auf Gymnasien und Hochschulen) 2) 2. Kontrolle in Prüfungen (alle zum gleichen Zeitpunkt das gleiche Wis-sen, Auslese, Hierarchisches Prüfprinzip, Ausleseverfahren) 3) 3. Noten zementieren durch die einseitige Machtzuschreibung beim Lehrenden die Lehr-Lern-Verkehrung: der Lernende wird belehrt. 4) 4. Noten zementieren die Reduktion der Bildung auf Fachkompetenz, da nur dort scheinbar „objektiv“ richtig und falsch gemessen werden kann, was Fakt ist. Die die dringend zu entwickelnden Sozial-, Persönlichkeits-, Methoden- und Handlungskompetenzen entfallen bei der Leistungsmessung durch Noten und damit auch als Entwicklungschan-cen für die Schule. Notenfreie Schulen sorgen für eine Verflüssigung der Kontrollparameter.
2 Zehn Schattenseiten des Notensystems in Schulen
I. Noten als Repräsentanten geschlossener Systeme Die Leistungsbewertungen nach Noten erfordern geschlossene Prüfsysteme, sie werden dadurch berechenbar und können strate-gisch durch Vorbereitung bestanden werden – bewertet wird das Anpassen und Schaulaufen (gilt auch für Referendare in der Lehr-probe). II. Deduktives automatisiertes Bewertungssystem Abarbeiten vorgefertigter Fragen und eingeschränkte Erfassungs-möglichkeiten haben keinen Platz für andere Wirklichkeiten - ein durch das System vorgegebenes abstrahierendes gehaltloses quantitatives Zusammenfassen verliert seinen Inhalt und lässt dem Leser (z. B. Eltern, Betriebe) nahezu jegliche Interpretation offen. III. Dokumentation Als Kompetenz wird nur anerkannt, was in schriftlich niedergelegten (deutsch-)sprachlichen Einzelleistungen zu (kognitiv-orientierten) Fächern zu finden ist – Sozial- und Handlungskompetenz sowie Räumliche-, Musikalische-, Körperlich-kinästhetische-, Intraperso-nale- und Interpersonale Intelligenzen (Howard Gardner) werden nicht . IV. Das Leben in der MATRIX Noten werden zum Eigenleben erhoben (Ich habe eine eins – und Du?). Diese Nachweise erbrachter (Einzel-)„Leistungen“ laden zum strategischen Prüfungsbestehen ein (Bulimie-Lernen = Das, was der Lehrer will, reinstopfen, zum angegebenen Zeitpunkt auskotzen – und vergessen und verdrängen – Auslagern des Bildungsauftrags der Schulen: Nachhilfe-Boom, jeder 2. Gymnasiast!) Notenbasierte Prüfungen garantieren nicht, dass wirklich Kompetenz entstanden ist. V. Vorgesetzte Prämissen Den SchülerInnen wird von außen vorgeschrieben, was für sie gut ist, an Wissen, an Methoden, an Disziplin, an Freiheit (Osterhasen-pädagogik: Der Lehrer versteckt das Wissen - die Schüler sollen's suchen: fragend-entwickelnden Unterricht, bei dem der Lehrer von vorn das Wissen aus den Schülern heraus zu kitzeln versucht) VI. Unterordnungsbelohnung (PiratInnen, wacht auf!) Es geht um Besserwissen & Macht. Das Anpassen an Vorgefertigtes wird belohnt, das Verheimlichen des Eigenen gefördert, der Impuls, eigenes zu entwickeln, im Keim erstickt. VII. Rollenfixierung Die Prüfsituation bei der Notengebung stellt per se die Prüferin, den Prüfer über den Geprüften, Angst und unsinniger externer Druck dominieren. VIII. Prüfung als zu überstehende Situation Angst fördert blindes Anpassungsverhalten vor, während und nach den Prüfungssituationen, Verstecken, Inszenieren und strategisches Prüfungsbestehen werden zum Mittelpunkt. IX. Quantitativer Ansatz Es geht um Quantitäten wie Noten, die das Leben und die Leistun-gen (Fähigkeiten und Kompetenzen) auf das Abstrakte und Bere-chenbare redu-zieren. Dem mündigen Bürger (Direktor, Eltern, Schüler) wird durch die vorgesetzte Note eine Objektivität vorge-spiegelt, die es nicht gibt. (Martin Weingart: Fehler zeichnen uns aus, Bad Heilbrunn 2004; Felix Winter: Leistungsbewertung, Baltmannsweiler 2004; Sabine Czerny: Was wir unseren Kindern in der SCHULE antun, München 2010; Ursula Leppert: Ich habe eine EINS! Und Du? Norderstedt 2010). X. Mogelpackung Quantitative Notensysteme abstrahieren von Qualitäten, nivellieren durch Vergleich nicht vergleichbarer Lebenssituationen (Menschen mit Behinderung - Inklusion) und Lebensentwürfe (Migrantenkinder oder Kinder aus finanziell schwaches Umfeld). Ebenfalls mißachten sie unterschiedliche Entwicklungsstadien und Reifegrade in unter-schiedlichen Bereichen der Schülerinnen und Schüler.