Bundesvorstand/Beschwerde-Sperrklausel

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Gegen die geplante 3%-Sperrklausel zur Europawahl wollen wir vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Geplant ist ein Organstreit, siehe BVerfGE 6, 84.

Hier der Entwurf für den Organstreit. Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge sind gerne gesehen --Nora 11:33, 25. Jun. 2013 (CEST) :


Bundesverfassungsgericht Schloßbezirk 3 76131 Karlsruhe


Per Fax vorab: 0721/9101-382

Im Organstreitverfahren

Der Piratenpartei Deutschland, vertreten durch den Bundesvorstand, dieser vertreten durch ihren Vorsitzenden Bernd Schlömer Pflugstraße 9a 10115 Berlin - Antragstellerin -

gegen

den Deutschen Bundestag, vertreten durch den Präsidenten, - Antragsgegner -

betreffend die 3%-Sperrklausel bei der Wahl des Europaparlaments

beantragt die Antragstellerin, festzustellen,

dass der Antragsgegner die Rechte der Antragstellerin aus Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes durch den Beschluss zum Erlass des Fünften Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes am 13. Juni 2013 verletzt hat.



Der nachfolgende Vortrag gliedert sich wie folgt:

A. Vorab

B. Sachverhalt I. Vor 2011 II. Nach dem Urteil des BVerfG vom 9.11.2011 (2 BvC 4, 6, 8/10) III. Entschließung vom 9.11.2012 IV. Die Antragstellerin V. Sperrklauseln in anderen EU Staaten

C. Zulässigkeit I. Beteiligtenfähigkeit II. Antragsgegner III. Antragsgegenstand IV. Antragsbefugnis

D. Begründetheit I. Eingriff in den Schutzbereich II. Keine Rechtfertigung

E. Eilbedürftigkeit

A. Vorab An der Situation im EU-Parlament hat sich seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 2011 nichts geändert. Es gab keine Änderungen des Kompetenzkataloges des EU-Parlaments oder der politischen Strukturen im Europäischen Parlament, weder in personeller noch in fraktioneller Hinsicht. Schon das letzte Parlament hat den Kommissionspräsidenten gewählt. Es fehlt auch an jedem Anhaltspunkt dafür, dass sich das Parlament nun in Regierungs- und Oppositionslager gliedert. Die Entschließung 2012/2829 (RSP) des Europäischen Parlaments vom 20.11.2012 ändert weder die Rechtslage, noch die aktuellen Verhältnisse und ist nicht geeignet einen so gravierenden Eingriff in die Rechte der Parteien und Bürgerinnen, wie er mit einer 3%-Sperrklausel vorläge, zu rechtfertigen. Der nachträglich eingefügte Nr. 4 der Entschließung ist für sich kein tauglicher Grund, um Sperrklauseln zu rechtfertigen. Der Gesetzesänderungsbeschluss zur Einführung einer 3%-Sperrklausel verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten nach dem Grundgesetz und ist somit nichtig. Er verletzt außerdem die Bürgerrechte der Wähler, insbesondere deren Recht auf gleiche Wahl.

B. Sachverhalt I. Vor 2011 Bis zum Urteil des Verfassungsgerichts vom 9.11.2011 (BVerfGE 129, 300) bestand nach dem deutschen Europawahlgesetz für die Wahlen zum europäischen Parlament eine 5%-Sperrklausel. Über dessen Rechtmäßigkeit hatte das Verfassungsgericht bereits am 22. Mai 1979 entschieden. Dabei hielt es diese unter den damaligen Umständen für mit der Verfassung vereinbar (vgl. BVerfGE 51, 222).

II. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.11.2011 Am 9.11.2011 hat das Bundesverfassungsgericht ein neues Urteil bzgl. der 5% Sperrklausel im EU-Parlament gesprochen. Dabei hat es den § 2 Abs. 7 des EuWG für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Im Leitsatz des Urteil heißt es: „Der mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel in § 2 Abs. 7 EuWG verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien ist unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtfertigen.”

Das Urteil wurde in der Literatur überwiegend begrüßt und als Fortführung der bisherigen Rechtsprechung im Wahlrecht anerkannt.1 Zur letzt möglichen Sitzung vor der diesjährigen parlamentarischen Sommerpause haben die Bundestagsfraktionen mit Ausnahme der Linken den “Entwurf eines fünften Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes” eingebracht. Dieser wurde am 6. Juni 2013 in der ersten Lesung im Bundestag behandelt und am 13. Juni 2013 nach der zweiten und dritten Lesung beschlossen. In der Begründung des Gesetzesentwurfs heißt es, es gäbe eine Veränderung der aktuellen Verhältnisse. Das Bundesverfassungsgericht hätte eine solche Veränderung für eine Neubeurteilung der verfassungsrechtlichen Verhältnisse vorausgesetzt. Diese Veränderungen der Verhältnisse ergründeten sich in der Entschließung des EU-Parlaments vom 9.11.2012.

III. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9.11.2012 In der genannten Entschließung heißt es in Nr. 4: “Das Europäische Parlament (...) vertritt angesichts der durch den Vertrag von Lissabon eingeführten neuen Modalitäten für die Wahl der Europäischen Kommission und des sich demzufolge ändernden Verhältnisses zwischen Parlament und Kommission ab den Wahlen 2014 die Ansicht, dass verlässliche Mehrheiten im Parlament für die Stabilität der Legislativverfahren der Union und das reibungslose Funktionieren ihrer Exekutive von entscheidender Bedeutung sein werden, und fordert die Mitgliedstaaten daher auf, in ihrem Wahlrecht gemäß Artikel 3 des Aktes zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung geeignete und angemessene Mindestschwellen für die Zuteilung der Sitze festzulegen, um dem in den Wahlen zum Ausdruck gekommenen Wählerwillen gebührend Rechnung zu tragen, bei gleichzeitiger Wahrung der Funktionalität des Parlaments”. Das Parlament fordert folglich die Mitgliedstaaten dazu auf “geeignete und angemessene” Mindesteschwellen in ihren Wahlgesetzen einzuführen. Nach europarechtlicher Terminologie wird die im deutschen Recht übliche dreischrittige Verhältnismäßigkeitsprüfung in zwei Schritten vollzogen, sodass die hiesige “Erforderlichkeit” in den Tatbestand der “Angemessenheit” zu lesen ist. Die Nr. 4 der Entschließung vom 9.11.2012 war im ursprünglichen Entschließungsantrag des Ausschusses für konstitutionelle Fragen vom 20.11.2012 (B7-0520/2012) nicht enthalten. Sie wurde auf Initiative deutscher Abgeordneter seitens der Fraktionen EVP und S&D als Änderungsantrag eingebracht.

IV. Die Antragstellerin Die Antragstellerin ist eine in Deutschland tätige politische Partei. Sie wird von ihrem Bundesvorstand, dieser vom Bundesvorsitzenden Bernd Schlömer vertreten. Die Piratenpartei Deutschland ist 2006 gegründet worden und ist heute in 4 Landtagen mit 45 Abgeordneten vertreten. Weiterhin gehören ihr rund 200 Abgeordnete in Kommunalvertretungen an. Bereits 2009 trat die Antragstellerin zur Europawahl an und erzielte ein Ergebnis von 0,9 %. Weiterhin hat sie ihre Beteiligung an der Bundestagswahl 2013 beim Bundeswahlleiter angezeigt.

Neben der deutschen Piratenpartei gibt es in Europa 22 weitere Piratenparteien. Diese haben wie auch deutsche Piratenpartei die Absicht an den Europawahlen 2014 teilzunehmen. Die schwedische Piratenpartei (Piratpartiet) ist bereits mit zwei Abgeordneten im Europaparlament vertreten. Die Piratenparteien stehen unter anderem für Bürgerrechte, Demokratie, ein vereintes Europa, Innovation und Netzpolitik. Sie sind eine europäische Bürgerrechtsbewegung mit einem gemeinsamen Geist und einer gemeinsamen Vision. Bereits im Vorfeld zur Europawahl 2009 verabschiedeten die europäischen Piratenparteien eine gemeinsame Erklärung zum Programm zur Europawahl 2009.

V. Sperrklauseln in anderen EU-Staaten Explizite Sperrklauseln bei der Wahl zum Europäischen Parlament gibt es in Frankreich, Griechenland, Italien, Lettland, Litauen, Österreich, Polen, Rumänien, Schweden, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn, also in weniger als der Hälfte der EU-Mitgliedstaaten. Einen gewissen Prozentsatz der ländereignen Stimmen benötigen Parteien in allen Ländern, um einen Platz zu erringen („de facto-Sperrklausel“). Dieser Prozentsatz liegt in einigen kleineren Ländern bei über 5%. Gerechnet auf die Bürgerstimmen pro Sitz im EU-Parlament benötigt eine deutsche Partei heute ohne Sperrklausel ca. 650.000 Stimmen (bei zuletzt 62.222.873 Wahlberechtigten und 96 Sitzen), um einen Sitz zu erreichen. Lediglich in Frankreich, Großbritanien und Spanien ist die Zahl der Abgeordneten pro Bürgerstimme kleiner.

C. Zulässigkeit Der Antrag ist zulässig. Die Antragstellerin ist beteiligtenfähig (I), es liegt ein tauglicher Antragsgegner (II) und Antragsgegenstand (III) vor. Die Antragstellerin ist antragsbefugt (IV). Form und Frist im Sinne der §§23 Abs. 1, 64 Abs. 2, 3 BVerfGG wurden eingehalten.

I. Beteiligtenfähigkeit Die Antragstellerin ist als sonstige Beteiligte im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG beteiligtenfähig.

1. Parteifähigkeit von politischen Parteien “Politische Parteien können die Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status durch die rechtliche Gestaltung des Wahlverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht nur im Wege des Organstreits geltend machen.” (BVerfGE 4, 27). “Die Parteien nehmen dieses ihnen in Art. 21 GG garantierte Recht in erster Linie durch Beteiligung an den Parlamentswahlen wahr. Wenn sie in diesem Bereich tätig werden und um die Rechte kämpfen, die sich aus dieser besonderen Funktion im Verfassungsleben ergeben, dann muss ihre 'organschaftliche' Qualität auch die Form ihrer Teilnahme am verfassungsgerichtlichen Verfahren bestimmen: Sie können nur Beteiligte im Organstreit sein, die Verfassungsbeschwerde aber wäre für sie nach der Struktur des BVerfGG nicht das adäquate prozessuale Mittel. In diesem Sinne ist die Anführung des Art. 38 in § 90 einschränkend auszulegen. Das bedeutet nicht, dass Art. 38 das Wahlrecht der politischen Parteien materiell nicht betreffe. Die Entscheidung bedeutet auch nicht, dass den politischen Parteien die Verfassungsbeschwerde schlechthin versagt wäre. Sie beschränkt sich vielmehr auf die Feststellung, dass die Rechte der politischen Parteien im Wahlverfahren, insbesondere ihr Recht auf Gleichbehandlung, zu ihrem besonderen verfassungsrechtlichen Status gehören und daher die Verletzung dieser Rechte nur im Verfassungsstreit geltend gemacht werden kann. Damit wird auch das unerwünschte Ergebnis vermieden, dass eine politische Partei nach Zweckmäßigkeitserwägungen zwischen den beiden Rechtsbehelfen wählen könnte” (BVerfGE 4, 27 Rn. 17 f. ).

2. Die Piratenpartei Die Piratenpartei ist eine politische Partei nach § 2 PartG, Art. 21 I GG (s.o.).

II. Antragsgegner Der Bundestag ist ein oberstes Bundesorgan im Sinne des Art. 93 Abs. 1 S. 1 GG und passiv legitimiert, weil er durch die Beschlussfassung über das Fünfte Gesetz zur Änderung des Europawahlgesetzes die angefochtene "Maßnahme" getroffen hat.

III. Antragsgegenstand Tauglicher Antragsgegenstand ist der Gesetzesbeschluss des Bundestages vom 12.6.2013. “Es ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass auch der Erlass eines Gesetzes eine 'Maßnahme' im Sinne der §§ 64, 69, 72 BVerfGG sein kann, die durch Nichtbeachtung einer höheren Norm Rechte eines 'Beteiligten' verletzt.” (BVerfGE 6, 84, Rn. 18).

IV. Antragsbefugnis Die Antragstellerin ist durch den Erlass des Fünften Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes in ihren durch das Grundgesetz übertragenen Rechten unmittelbar gefährdet und verletzt. Die Antragstellerin ist durch die Einführung der 3%-Sperrklausel in ihrem Anspruch auf Chancengleichheit verletzt und mit Blick auf die im Mai 2014 anstehende Wahl zum Europäischen Parlament unmittelbar gefährdet. Der Anspruch auf Wahrung der Chancengleichheit ergibt sich aus der Parteienfreiheit des Art. 21 I GG und dem Mehrparteienprinzip, welches der Verfassung zugrunde liegt (vgl. BVerfGE 82, 322, 337; Maurer Staatsrecht I §11 Rn. 43). Im Wahlrecht wird der Grundsatz der Chancengleichheit durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG besonders gewährleistet (vgl. Maurer Staatsrecht I §11 Rn. 43).

D. Begründetheit Der Antrag ist begründet. Die Antragstellerin ist durch den Erlass des Fünften Gesetzes zur Änderung des Europawahlrechts in ihrem Recht auf Chancengleichheit gem. Art. 21 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG verletzt und Blick auf die anstehenden Wahlen unmittelbar gefährdet. Der Beschluss des Bundestags verstößt weiterhin gegen die Wahlrechtsgleichheit.

I. Eingriff in den Schutzbereich Es liegt ein Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit gem. Art. 21 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG, sowie in die Wahlrechtsgleichheit vor.

1. Das deutsche Grundgesetz als Kontrollmaßstab “Das Europawahlgesetz ist deutsches Bundesrecht und als solches am Grundgesetz und den darin enthaltenen Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien zu messen.” (BverfGE 129, 300, Rn. 76).” “Die Nichterwähnung der Wahlgleichheit im Direktwahlakt (...) ist den Besonderheiten eines supranationalen Vereinigungsprozesses geschuldet und bietet keinen Anlass, von der nationalen Betonung der Wahlgleichheit abzuweichen. In diese Richtung weist auch der 'Europaartikel' des Grundgesetzes: Art. 23 Abs. 1 GG spricht von einer EU, die demokratischen Grundsätzen verpflichtet ist (siehe Morlok/Kühr, JuS 2012, 385, 387). Dabei ist eine Demokratie als egalitäres System zu verstehen, in dem die Stimme jeder Bürgerin und jedes Bürgers gleich viel zählt. Das Unionsrecht stellt mit seiner Regelung in Art. 3 des Direktwahlaktes, dass die Mitgliedstaaten Mindestschwellen bis zu 5% festlegen können, keinen Freifahrtschein aus (a.A. hier Schönberger, JZ 2012, 80, 82). Es erwartet vom Gesetzgeber weiterhin, dass solche Mindestschwellen im eigenen Mitgliedsstaat ein angemessenes Mittel bilden, und begrenzt deren Legalität auf eine maximale Höhe von 5%. Dem Europäischen Gesetzgeber ist dabei bewusst, dass ein bestimmter Prozentsatz in jedem Mitgliedstaat aufgrund der degressiven Proportionalität eine stärkere oder schwächere Wirkung haben kann. Folglich verbleibt nach einer europäischen Gesamtbetrachtung die bloße Möglichkeit einer Mindestschwelle, welche sich an demokratischen Gesichtspunkten und der nationalen Verfassung messen lassen muss.

2. Der Eingriff in den Schutzbereich Mit der Einführung einer 3%-Sperrklausel hat der Antragsgegner in den Schutzbereich der Chancengleichheit und der Wahlgleichheit eingegriffen. Diese Rechte ergeben sich aus Art. 21 Abs. 1 GG und Art 3 Abs. 1 GG. “Mangels Spezialvorschrift für die Wahl zum Europäischen Parlament kann (..) auf Art. 3 Abs 1 GG zurückgegriffen werden” (siehe Morlok, Kühr, JuS 2012, 385, 387). Dies geschieht „in seiner Ausprägung als Gebot formaler Wahlgleichheit“. (BVerfG, Urteil vom 9.11.2011, 2 BvC 4, 6, 8/10 vom 9.11.2011 Rn 78). „Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Zur Zählwertgleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu (vgl. BVerfGE 120, 82 <103>).” (BVerfGE 129, 300, Rn. 79)

Bei einer Wahl geben die Bürgerinnen und Bürger nach ihren politischen Vorstellungen Stimmen ab. Nach dem Verhältniswahlrecht werden die vorhandenen Sitze im deutschen Kontingent im Europaparlament (nach dem aktuellen Europawahlgesetz 96) anteilig auf die Parteien verteilt. Dabei besteht auch in Deutschland eine sog. „Defakto-Sperrklausel“, da es einer bestimmten Zahl von Bürgerstimmen bedarf, um zumindest einen Sitz zu erlangen. In Deutschland gibt es ca. 62.222.873 Wahlberechtigte zur Europawahl. Bei 96 Sitzen benötigte jede Partei ca. 650.000 Stimmen, um rechnerisch einen Sitz zu erhalten. Mit einer künstlichen Sperrklausel wird den Parteien, die hier zwar rechnerisch Sitze errungen hätten, aber nicht 3% der Gesamtwählerstimmen erlangt haben, dieses Kontingent entzogen. Dies geschieht entgegen der Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger. Die so nicht besetzten Plätze fallen den „großen“ Parteien zu, welche die Sperrklausel überschritten haben. Faktisch begünstigt so eine Wählerstimme, die möglicherweise gerade als Stimme gegen eine große Partei zu verstehen war, diese. Dies führt zu einer Schwächung von kleinen und zu einer Stärkung von großen Parteien. Die Chancen von kleinen Parteien werden mit diesem System an mehreren Stellen beschnitten. Schon im Vorlauf zur Wahl erhalten Parteien, bei denen nicht sicher ist, ob sie überhaupt in das Parlament einziehen werden, weniger Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit. Weniger Aufmerksamkeit führt zwangsläufig zu einem geringeren Bekanntheitsgrad, sodass diese Parteien ihre Ziele, Wünsche und Programme weniger wirksam in die Öffentlichkeit tragen können und so auch beim zukünftigen Wähler unbekannter sind. Ihre Chance eine Stimme zu erhalten ist damit weitaus geringer. Des Weiteren fällt aus Sicht des (potenziellen) Wählers einer kleinen Partei mit der Höhe der Einzugshürde die Wahrscheinlichkeit, dass die eigene Wählerstimme Erfolg haben wird. Aus Angst, die eigene Stimme könnte erfolglos verfallen, sinkt die Motivation zur Wahl solcher Parteien. Zwar besteht diese Wirkung auch aufgrund der Defakto-Sperrklausel, mit der künstlich erhöhten Sperrklausel wird dieser Effekt aber vervielfacht. So hat die Piratenpartei als sehr junge Partei zurzeit eine Stammwählerschaft in Höhe von ca. 2% der Bevölkerung. Ohne öffentliche Aufmerksamkeit und das Vertrauen der Wähler auf einen Parlamentseinzug ist eine Sperrklausel von 3% für die kleine Partei viel schwerer zu erreichen als für eine etablierte Partei.

Gleichzeitig wird der Erfolgswert der Wählerstimme beschnitten, sodass ein Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit vorliegt. “Diejenigen Wählerstimmen, welche für Parteien abgegeben worden sind, die mindestens 5 % [hier: 3%] der Stimmen erhalten haben, haben unmittelbaren Einfluss auf die Sitzverteilung nach dem Verhältnisausgleich. Dagegen bleiben diejenigen Wählerstimmen, die für Parteien abgegeben worden sind, die an der Sperrklausel gescheitert sind, ohne Erfolg.“ (BVerfGE 129, 300, Rn. 83)

3. Schwere des Eingriffs Mit der künstlichen Sperrklausel verteilt der Gesetzgeber Wählerstimmen neu entgegen dem Wählerwillen und zu Lasten von kleinen Parteien. Der Gesetzgeber ist hier konkret der Begünstigte von dieser Regelung (Roßner NVwZ 2012, 22, 23; BVerfGE 120, 82). Er greift in das demokratische System ein und verteilt den Einfluss in seinem Sinne um. Es besteht somit die Gefahr, dass diese Entscheidung nicht zum Wohle der Demokratie und Europa, sondern aus Gründen des Machterhalts getroffen wird. Der Eingriff in den Schutzbereich wiegt besonders schwer, da die Chancengleichheit und die Wahlgleichheit Grundpfeiler des demokratischen Systems darstellen.

Im Sondervotum wird angeführt, dass das Bundesverfassungsgericht in der Bundesrepublik die Direktmandate und so ein Mehrheitswahlsystem mit dem Grundgesetz für vereinbar hielte (vgl. BVerfGE 129, 300, Rn. 150). Dort würde der Erfolgswert von viel mehr Stimmen verfallen. Abgesehen von der Frage, ob diese Ausführungen heute noch so aufrecht erhalten werden können, spricht einiges gegen die Tauglichkeit dieses Vergleichs (vgl. Roßner, NVwZ 2012, 22, 24). Zunächst einmal hat sich der Direktwahlakt ausdrücklich gegen ein Mehrheitswahlsystem ausgesprochen und die Verhältniswahl angeordnet. Indem der Direktwahlakt eine Höchstschwelle für Sperrklauseln anordnet und das Mehrheitswahlsystem ausdrücklich verbietet, bekennt sich der Gesetzgeber zumindest insoweit zur Wahlrechtsgleichheit im europäischen Wahlrecht. Des Weiteren sind die einzelnen Wahlelemente immer im Gesamtsystem des Wahlsystemes zu betrachten und nicht heraustrennbar (vgl. BVerfGE 129, 300, Rn. 152).

Bei der Europawahl 2009 hatten in Deutschland von den gültigen Stimmen rund 2,8 Millionen, mithin circa 10 % der gültig abgegebenen Wahlstimmen, keinen Erfolgswert (BVerfG a.a.O., Rn 84). Faktisch sind folglich Wählerstimmen im Ausmaß von mehr als einem ganzen mittelgroßen Bundesland wie Niedersachsen oder Hessen bei der Wahl außer Acht gelassen worden. Der Gang zur Wahlurne von all diesen Bürgerinnen und Bürgern hat sich nicht auf die Zusammensetzung des Parlaments ausgewirkt. Kein anderes Ergebnis hätte eine 3 %-Sperrklausel herbeigeführt. Dabei ist “die Gleichheit der einzelnen Wählerstimme (...) für die Legitimität des Wahlergebnisses von entscheidender Bedeutung” (siehe Morlok, Kühr, JuS 2012, 385, 387, vgl. auch Roßner, NVwZ 2012, 22, 23). Die Gleichbehandlung der Staatsbürger im Rahmen des Wahlrechts ist wesentliche Grundlage der Staatsordnung (vgl. BVerfGE 51, 222 (234); 120, 82, 102).

Anerkanntermaßen ist der Einfluss und das Aufgabenspektrum des Europäischen Parlaments an vielen Stellen gewachsen (vgl. u.a. BVerfGE 129, 300, Rn. 5; Hilgruber JA 2012, 316, 318; Sachs JuS 2012,.477, 477; Schönberger JZ 2012, 80, 85). Über die Binnenmarktsharmonisierung und in diversen weiteren Bereichen hat die Bundesrepublik faktisch Kompetenzen abgegeben. Je größer der Einfluss des Europäischen Parlamentes ist, desto wichtiger ist es, dass die deutschen Volksvertreter nach rechtsstaatlichen und demokratischen Kriterien gewählt werden. Das in Deutschland vorhandene Meinungsspektrum, der Wählerwille und dessen Bedürfnisse müssen sich im Parlament durch die Wahl widerspiegeln. Jede künstliche Verzerrung der Parlamentsbesetzung durch Beschneidung des Wahlergebnisses – wie hier eine künstliche Sperrklausel - ist folglich ein besonders schwer wiegender Eingriff.

Die 3%-Sperrklausel stört auch den im Zuge der europäischen Einigung erstrebenswerten Zusammenschluss von Abgeordneten in echten, politisch möglichst homogenen Fraktionen. Die Bildung europäischer Fraktionen wird allgemein als erstrebenswerter Integrationsfaktor angesehen. Es ist davon auszugehen, dass kleine Fraktionen im Europäischen Parlament politisch homogener sein können als Großfraktionen wie EVP oder S&D. Zur Bildung einer Fraktion im Europäischen Parlament braucht es 25 Abgeordnete aus mindestens einem Viertel (d. h. sieben) der Mitgliedstaaten. Um diese Voraussetzungen zu erfüllen, ist jeder einzelne Abgeordnete wichtig. Nationale Sperrklauseln erschweren es, die erforderliche Zahl von Abgeordneten und von Mitgliedsstaaten zu erreichen, um eine europäische Fraktion bilden zu können.

4. Prüfungsmaßstab “Eine rechtliche Einwirkung auf die Chancen der Parteien in ihrem Wettbewerb untereinander [steht] unter besonders strengen Rechtfertigungsanforderungen.” (siehe Morlok/Kühr, JuS 2012, 385, 388) “Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung innerhalb der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 120, 82, 106). Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes (vgl. BVerfGE 6, 84, 92; 51, 222, 236 ; 95, 408, 418). Das bedeute nicht, dass sich die Differenzierung als von Verfassungs wegen notwendig darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht könnten vielmehr auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann (vgl. BVerfGE 1, 208, 248; 6, 84, 92; 95, 408, 418).” (siehe BverfGE 129, 300, Rn. 87). “Für Differenzierungen im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit verbleibt dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener Spielraum (vgl. BVerfGE 95, 408, 417 f.). (...) Weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt aber die Ausgestaltung des Wahlrechts hier einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle (vgl. BVerfGE 120, 82, 105)” (siehe BVerfGE 129, 300, Rn. 91; vgl. Morlock JZ 2012, 76, 77 f.; vgl. auch zur Wettbewerbsverzerrung in Wahlsachen: v. Arnim, Wahlgesetze: Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, JZ 2009, 813 ff.; Roßner, NVwZ 2012, 22, 23). Dafür spricht auch die “herrschaftslegitimierende Wirkung von Wahlen”. Nur wenn die Bürgerder Ansicht sind die Wahl würde unter fairen Bedingungen stattfinden kann er die getroffene Entscheidung akzeptieren. Das Bewusstsein, dass das Bundesverfassungsgericht einen genauen Blick auf das Wahlrecht wirft, ist hierfür essentiell (vgl. auch Roßner, NVwZ 2012, 22, 23).

II. Keine Rechtfertigung 1. Legitimer Zweck In der Gesetzesbegründung werden verhalten wenige Gründe für die Sperrklausel angeführt. Es heißt, es solle der Zersplitterung des Parlaments mit einer damit einhergehenden Funktionsunfähigkeit des Parlament entgegengewirkt werden. Diese resultiere aus dem Risiko einer anhaltenden “Blockade der parlamentarischen Willensbildung, die zu einer Delegitimation des Europäischen Parlaments im öffentlichen Ansehen führen könnte” (Drs. des BT 17/13705 S. 12). Außerdem ginge es darum, durch die Stärkung der großen Parteien Mehrheiten für die Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission zu sichern.

2. Geeignet, erforderlich und angemessen Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.11.2012 hat sich an der Beurteilung der Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Sperrklausel nichts Wesentliches geändert. An dieser Stelle kann in seiner Gesamtheit auf das gut begründete Urteil verwiesen werden, demzufolge jede Sperrklausel verfassungswidrig ist.2 Es fehlt auch bei einer Drei-Prozent-Sperrklausel an einem zwingenden Grund, um den Eingriff zu rechtfertigen.

a) Keine Zersplitterung des Parlaments Die Sperrklausel ist weder geeignet, noch erforderlich oder angemessen, um einer Zersplitterung des Parlaments vorzubeugen.

aa) Betrifft nur das deutsche Kontingent Die deutsche Sperrklausel wirkt sich ausschließlich auf das deutsche Abgeordnetenkontingent bei der Europawahl aus und ist deshalb schon nicht geeignet die Zersplitterung des Europäischen Parlaments zu vermeiden. Das deutsche Kontingent hat schon jetzt eine stabilisierende Wirkung auf das Parlament, da Deutschland gerechnet auf die Parteien pro Wählerstimmzahl nur sehr wenige Parteien in das Parlament entsendet. Die Ansicht, jedes ländereigene Wahlsystem müsse auch tauglich sein für ganz Europa als Vorbild zu gelten (vgl. Hilgruber, JA 2012, 316, 318 f.), ist schon deshalb falsch, weil jedes Land gerade die eigenen Besonderheiten berücksichtigt, um eine demokratische Vertretung im Parlament zu gewährleisten. Bei einem gemeinsamen Wahlsystem, sollte dies einmal zustande kommen, müssen gegebenenfalls andere Maßstäbe angelegt werden. Im Vergleich zu einer 5%-Sperrklausel ist eine 3%-Sperrklausel noch weniger geeignet, einer “Zersplitterung” vorzubeugen. Selbst wenn alle anderen Mitgliedstaaten ebenfalls eine 3%-Hürde einführen würden, hätte dies kaum Auswirkungen, weil sie nur in den großen Ländern etwas an der Sitzverteilung ändern könnte – in noch geringerem Ausmaß als in Deutschland.

bb) Fraktionen als relevanter Bezugspunkt Lediglich 7 weitere Parteien wären ohne eine deutsche Sperrklausel bei der letzten Europawahl in das Parlament eingezogen, so dass dort 169 Parteien statt 162 vertreten wären. Im Parlament finden sich Abgeordnete verschiedener Parteien in länderübergreifenden Fraktionen zusammen. Es bedarf einer Gesamtbetrachtung der Parteien und Fraktionen im Parlament zur Meinungsbildung. Diese findet in Abstimmung innerhalb der Fraktionen statt, sodass die einzelnen Parteien eine kleinere Rolle spielen.

Für den Zusammenhalt im Parlament sind folglich in erster Linie die Fraktionen verantwortlich. Sie bestehen aus Abgeordneten verschiedener Parteien aus mehreren Ländern. Bisher bestehen im EU-Parlament zwei große Fraktionen, die gemeinsam eine sichere Mehrheit begründen. Daneben gibt es mehrere kleinere Fraktionen. Das verhältnismäßige Gewicht der großen Fraktionen kann mit der Zahl der im Parlament vertretenen Parteien abnehmen, soweit die Abgeordneten der kleinen Parteien sich nicht den großen Fraktionen anschließen. Es gibt allerdings auch Abgeordnete von großen Parteien, die auf eine Fraktionsmitgliedschaft verzichten. Wie sich die neuen Abgeordneten verhalten würden ist nicht vorhersehbar. Die Abgeordneten der Piratenpartei aus Schweden haben sich z.B. einer bereits bestehenden Fraktion angeschlossen. Selbst wenn die Größe der beiden großen Fraktionen aufgrund des Wählerverhaltens in Zukunft abnehmen sollte, muss dies nicht zu einer Parlamentszersplitterung führen. Es kann vielmehr Motivation für kleine Fraktionen sein, sich ebenfalls zusammen zu schließen, um selbst mehr Einfluss zu gewinnen. Bei einem Viel-Parteien-System, wie es im Europäischen Parlament angelegt ist, kommt es darauf an, gemeinsam Absprachen zu treffen und Kompromisse zu finden. In Deutschland ist es bereits üblich, dass sich Parteien zu Koalitionen zusammenschließen. Immer öfter kommt es zu Drei-Parteien-Koalitionen. Diese müssen nicht zwingend schwerer zu organisieren sein als Zusammenschlüsse von zwei Partnern.

cc) Piratenpartei als europäische Bürgerrechtsbewegung Die Piratenpartei versteht sich als eine europäische Bürgerbewegung. Es gibt Piratenparteien in 40 Ländern der Welt und in 22 Ländern der Europäischen Union. Europäische Parteien, die miteinander arbeiten kooperieren und sich als Vertreter von europäischen Bürgerinnen und Bürgern verstehen, sind eine neue Entwicklung, die Europa und dessen Zusammenwachsen fördert. Genau diese Art von Parteien wirkt der Parlamentszersplitterung entgegen, sodass mit ihrem Ausschluss das Gegenteil des Bezweckten erreicht würde.

dd) Keine negativen Folgen Es ist keine Parlamentszersplitterung zu erwarten. Der Einzug von mehr kleineren Parteien führt nicht zwangsläufig dazu, dass die Zusammenarbeit im Europäischen Parlament gefährdet würde. In einem so vielschichtigen Zusammenschluss wie der EU sind immer viele unterschiedliche Interessen zu berücksichtigen. Ohne eine Sperrklausel in Deutschland würde sich nichts Systemrelevantes ändern.

b) Keine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Parlaments Mangels Parlamentszersplitterung wird die Funktionsfähigkeit des Parlaments in keiner Weise beeinträchtigt. Die Funktionsfähigkeit würde weder berührt, wenn weitere Fraktionen gegründet würden, noch wenn Abgeordnete von kleineren Parteien sich bestehenden Fraktionen anschließen würden. Selbst dann, wenn alle Abgeordneten von kleinen Parteien auf eine Fraktionszugehörigkeit verzichteten, hätte dies auch auf Beschlüsse, bei denen eine qualifizierte Mehrheit benötigt würde, keine Auswirkung. Weiterhin ist es nicht begründbar, dass eine Erhöhung der Zahl der im Parlament vertretenen Parteien von 162 auf 169 einen wesentlichen Unterschied für die Arbeits- und Entscheidungsmöglichkeit des Parlaments bedeuten könnte (vgl. Morlock JZ 2012, 76, 78). Bereits in der Vergangenheit ist die Zahl der Abgeordneten aus unterschiedlichen Parteien stark gestiegen, was nicht zu einer Funktionsbeeinträchtigung geführt hat (vgl. Hilgruber, JA 2012, 316, 318). Es gibt keine Hinweise darauf, dass die mit einer Sperrklausel ausgeschlossenen Abgeordneten eine Blockadepolitik verfolgten. Selbst wenn sie dies täten, würde dadurch die Funktionsfähigkeit des Parlamentes nicht ernstlich beeinträchtigt.

c) Keine Abhängigkeit von stabilen Mehrheiten Das europäische Parlament ist nicht von stabilen Mehrheiten abhängig. Entscheidungen werden einmalig getroffen, und auch bei der Wahl von Repräsentationsorganen sind diese nicht auf fortlaufende Mehrheiten für Folgeabstimmungen angewiesen (vgl. Roßner, NVwZ2012, 22, 24). Für jede Entscheidung können sich wechselnde Mehrheiten finden.

d) Entschließung ist kein Rechtfertigungsgrund Im Gesetzesentwurf wird als „Änderung der bestehenden Verhältnisse“ auf die Entschließung des Europäischen Parlaments hingewiesen. Der dort nachträglich eingefügte Absatz, mit welchem das Parlament die Mitgliedstaaten auffordert, „geeignete und angemessene Mindestschwellen für die Zuteilung der Sitze festzulegen, um dem in den Wahlen zum Ausdruck gekommenen Wählerwillen gebührend Rechnung zu tragen“, ist kein Freibrief zur Einführung von Sperrklauseln. Das Parlament fordert die Mitgliedstaaten gerade auf, nur geeignete und erforderliche Mindestschwellen einzuführen. Dabei weist das Europäische Parlament ausdrücklich darauf hin, dass mit etwaigen Sperrklauseln dem Wählerwillen Rechnung getragen werden muss. Es erwartet also von den Mitgliedstaaten, unter Berücksichtigung demokratischer Gesichtspunkte zu prüfen, ob eine Mindestschwelle geeignet und erforderlich ist. Dass diese zumindest in Deutschland ungeeignet ist die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern, wurde im vorliegenden Schriftsatz bereits dargestellt. Soweit die Entschließung des Europäischen Parlaments auf die „durch den Vertrag von Lissabon eingeführten neuen Modalitäten für die Wahl der Europäischen Kommission“ Bezug nimmt, sind entscheidungserhebliche Veränderungen durch diesen Vertrag nicht ersichtlich. Im Vergleich von Art. 214 EG a.F. mit Art. 17 EU zeigt sich, dass der Kommissionspräsident bisher wie auch zukünftig nur mit Zustimmung des Europäischen Parlaments gewählt werden konnte und dass auch das gesamte Kollegium der Kommission der Zustimmung des Parlaments bedurfte und in Zukunft bedürfen wird. Es bleibt folglich bei der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Kommission und ihr Präsident, solange das Parlament ihnen nicht mit der erforderlichen hohen Stimmenzahl das Vertrauen entzieht, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht auf die weitere Zustimmung des Parlaments angewiesen sind (BVerfGE 129, 300, Rn. 119). Vor diesem Hintergrund ist nicht absehbar, dass sich die politischen Strukturen im Europäischen Parlament ab 2014 plötzlich in eine Richtung entwickeln könnten, wie sie bei einigen nationalen Parlamenten etwa in Bezug auf eine antagonistische Profilierung von Regierung und Opposition beobachtet werden kann (vgl. BVerfGE 129, 300, Rn. 109; entgegen Gesetzentwurf Drs. 17/13705, 11). Selbst wenn eine solche Entwicklung einträte, steht die bei Wegfall der Sperrklausel und ihr entsprechender Regeln anderer Mitgliedstaaten allenfalls zu erwartende höhere Anzahl von Abgeordneten kleiner Parteien einer geordneten Mehrheitsbildung nicht im Weg (BVerfGE 129, 300, Rn. 110). Das Bundesverfassungsgericht hat den Vertrag von Lissabon bei seiner Prognoseentscheidung bereits berücksichtigt (vgl. BVerfGE 129, 300, Rn. 5). Dieselben Argumente, die das Europäische Parlament in seiner Entschließung anführt, sind bereits vor dem Bundesverfassungsgericht ohne Erfolg angeführt worden (vgl. BVerfGE 129, 300, Rn. 53). Die Entschließung des Europäischen Parlaments ist nicht rechtsverbindlich.3 Sie befreit den deutschen Gesetzgeber nicht von der Pflicht die Mindestschwelle mit Bezug auf die eigenen Verhältnisse, Umstände und die aktuelle Parlamentssituation zu prüfen. Außerdem lassen sich aus ihr auch keine Schlüsse ziehen, wenn es um die Frage der Vereinbarkeit mit der deutschen Verfassung geht. Soweit das Bundesverfassungsgericht stets betont hat, wesentlich veränderte Verhältnisse könnten eine neue Beurteilung rechtfertigen, sind politische Entschließungen keine Veränderung der Sachlage. Eine Meinungsäußerung der Parlamentsmehrheit, die aus eigenem Interesse an einem Ausschluss politischer Konkurrenz interessiert ist, ändert die für die verfassungsrechtliche Beurteilung maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse nicht.

e) Der Direktwahlakt ist kein Rechtfertigungsgrund “Entgegen der Auffassung des Deutschen Bundestages komme Art. 3 des Direktwahlaktes keine Indizwirkung für die Frage der Vereinbarkeit der deutschen Sperrklausel mit dem Grundgesetz zu. Die Bedeutung dieser Vorschrift beschränke sich auf das europäische Recht. Soweit den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zur Festlegung einer Mindestschwelle für die Sitzvergabe eingeräumt werde, sei lediglich klargestellt, dass die deutsche Fünf-Prozent-Sperrklausel europarechtlich zulässig sei. Eine weitergehende Aussage des Inhalts, dass die Einführung einer Sperrklausel von vornherein nach dem Verfassungsrecht des Mitgliedstaates als zulässig angesehen werden müsse, enthalte Art. 3 des Direktwahlaktes nicht.” Die Mitgliedstaaten konnten sich bisher gerade nicht auf ein einheitliches Wahlsystem einigen. Wenn das Wahlsystem ohne nationalen Gestaltungspielraum kreiert wäre, so müsste es selbst auf die nationalen Unterschiede eingehen. In jeder Ausgestaltung wäre eine Mindestschwelle jeweils an den demokratischen Grundsätzen zu messen. Dabei darf nicht außer Acht bleiben, dass eine 3%-Schwelle in Polen andere Auswirkungen hat als eine augenzahlgleiche Prozentschwelle in Deutschland. Der Direktwahlakt ist so konzipiert, dass seine Umsetzung noch einmal einer Demokratiekontrolle zu unterziehen ist.

f) Charakter der Wahl als Integrationsvorgang ist kein Rechtfertigungsgrund “Auch der Charakter der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung und der im Primärrecht vorgesehene Europabezug der Parteien (vgl. Art. 10 Abs. 4 EUV-Lissabon) rechtfertigen es nicht, kleineren Parteien mithilfe einer Sperrklausel den Einzug in das Europäische Parlament zu verwehren. Es ist nicht Aufgabe der Wahlgesetzgebung, die Bandbreite des politischen Meinungsspektrums - etwa im Sinne besserer Übersichtlichkeit der Entscheidungsprozesse in den Volksvertretungen - zu reduzieren. Vielmehr ist gerade auch auf europäischer Ebene die Offenheit des politischen Prozesses zu wahren. Dazu gehört, dass kleinen Parteien die Chance eingeräumt wird, politische Erfolge zu erzielen. Neue politische Vorstellungen werden zum Teil erst über sogenannte Ein-Themen-Parteien ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Es ist gerade Sinn und Zweck der parlamentarischen Debatte, entsprechende Anregungen politisch zu verarbeiten und diesen Vorgang sichtbar zu machen (vgl. zum Ganzen BVerfGE 111, 382 <403 ff.>).” (vgl. BVerfGE 129, 300, Rn. 126).

g) Mehr Einfluss des Parlaments kein Grund für Einschränkung Dass das Europäische Parlament mehr Einfluss hat als vor dem Vertrag von Lissabon ist kein Grund den Willen der Wähler sowie die Chancen der Parteien zu beschneiden. Der Vertrag von Lissabon soll die demokratischen Einflussmöglichkeiten der Bürger stärken. Man würde seinen Zweck in das Gegenteil verkehren, würde man die verstärkten demokratischen Mitwirkungsrechte zum Anlass nehmen, die Abbildung des Volkswillens im Europäischen Parlament zu beeinträchtigen.

Die Verfasser des Gesetzentwurfs argumentieren, die Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten durch die europäischen Parteien werde die für die Wahl erforderliche Mehrheitsbildung erschweren, da nicht davon ausgegangen werden könne, dass eine Verständigung der beiden großen Fraktionen auf politische Kandidaten ohne weiteres gelingen werde. Hierzu ist zu bemerken, dass solche Personalfragen in Deutschland so gelöst werden, dass die stärkste Fraktion den Regierungschef stellt und weiteren zur Mehrheitsbildung erforderlichen Fraktionen andere wichtige Kabinettspositionen zugesteht (z.B. „Vizekanzler“). Es ist zu erwarten, dass dies auf europäischer Ebene ebenso erfolgen wird. Es obliegt dabei den Parteien, Kandidaten aufzustellen, die mehrheitsfähig sind. Im Übrigen wird die Mehrheitsfähigkeit von Kandidatinnen und Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aller Voraussicht nach nicht von einer deutschen Sperrklausel abhängen. Es ist nicht ersichtlich, dass eine Verständigung gerade aufgrund des Wegfalls der deutschen Sperrklausel nicht mehr oder nur noch mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits festgestellt, dass die bei Wegfall der Sperrklausel und ihr entsprechender Regeln anderer Mitgliedstaaten allenfalls zu erwartende höhere Anzahl von Abgeordneten kleiner Parteien einer geordneten Mehrheitsbildung nicht im Weg steht (BVerfGE 129, 300, Rn. 110).

Die Verfasser des Gesetzentwurfs stellen ferner darauf ab, eine Sperrklausel erleichtere die Bildung fester Blöcke oder Koalitionen im Europäischen Parlament, was sie als erstrebenswert zu betrachten scheinen. In diesem politischen Wunsch ist ein zwingender Grund, der die massive Einschränkung der Erfolgswertgleichheit der Stimmen durch Einführung einer Sperrklausel rechtfertigen könnte, jedoch nicht zu erblicken. Wie das Bundesverfassungsgericht umfassend ausgeführt hat, bestehen im Europäischen Parlament keine festen Koalitionen und sind solche auch nicht zwingend erforderlich im Sinne des Verfassungsrechts. Nach Auffassung der Antragstellerin gilt im Übrigen auch auf nationaler Ebene, dass ein Parlament ebenso gut im Wege frei sich bildender, wechselnder Mehrheiten funktionieren kann. Dies belegen etwa die skandinavischen Parlamente.

h) Kein deutscher Alleingang Mit dem Verzicht auf eine künstliche Sperrklausel verhält Deutschland sich im Vergleich zu den anderen Mitgliedstaaten nicht ungewöhnlich. Es gibt Staaten mit Sperrklauseln und solche ohne. Eine „Defakto-Sperrklausel“ haben naturgemäß alle Staaten. Bei Deutschland ist diese zwar, wenn man die Prozentzahlen vergleicht, auf den ersten Blick sehr gering. Werden diese Zahlen aber auf die dahinter vereinigten Bürgerstimmen gerechnet, ist in Deutschland die Defakto-Sperrklausel bereits sehr hoch.

Mit einer Sperrklausel droht Deutschland folglich weitaus mehr Wählerstimmen verfallen zu lassen als die meisten anderen Staaten, was die demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments zu schwächen droht.

i) Weitere Gründe In den Lesungen und der Anhörung wurde versucht, weitere Gründe für eine Sperrklausel anzuführen. Als schützenswert betrachtet wurde z.B. der deutsche Einfluss in den großen Fraktionen, welcher durch mehr Parteien geschwächt würde und sich bei der Wahl einer Fraktionsvorsitzenden auswirken würde. Die Schwächung der großen Fraktionen mit der Auswirkung, dass sich das Parlament schlechter spezialisieren könnte, solle vermieden werden. Die Personalstärke von den großen Fraktionen ist kein verfassungsrechtlich geschütztes Gut. Entschließen sich weniger deutsche Abgeordnete diesen Fraktionen beizutreten ist dies von Verfassungs wegen hinzunehmen. Es ist somit kein tauglicher Grund um nach dem Grundgesetz gewährleistete Rechte einzuschränken (vgl.BVerfGE 129, 300, Rn. 128; Morlok JZ 2012, 67, 68). Dass das Parlament durch den Einzug von mehr Parteien die Fähigkeit einbüßt sich zu spezialisieren, da diese “nur durch Arbeitsteilung innerhalb größerer Fraktionen entsteht” (siehe Schönberger JZ 2012, 80, 85; Ausführungen des Selben. in der Anhörung zum 5. Änderungsgesetz) ist eine unbegründete Behauptung. Es kann sogar ein gegenteiliger Effekt eintreten, weil neue Parteien einziehen, die ohnehin eine Expertise in bestimmten Bereichen aufweisen, wie z.B. die Piratenpartei, welche sich besonders gut mit Netzthemen auskennt, oder die grauen Panther, welche auf die Bedürfnisse von Älteren spezialisiert sind. Mit Abgeordneten aus neuen Parteien steigt die Expertise des Parlamentes anstatt zu sinken.


E. Eilbedürftigkeit Wegen der anstehenden Europawahl und der mit einer Sperrklausel schon im Wahlkampf verbundenen negativen Effekte auf die Chancen kleiner Parteien wird darum gebeten, zügig über den Antrag zu entscheiden, zumal eine positive Entscheidung noch rechtzeitig vor der Wahl vom Bundestag umgesetzt werden müsste und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bedeutung einer frühzeitigen Klärung des anzuwendenden Wahlrechts betont. Die Antragstellerin vertraut darauf, dass eine Hauptsacheentscheidung rechtzeitig möglich sein wird. Sollte dies absehbar nicht möglich sein, wird ein Hinweis erbeten. In diesem Fall bleibt ein Antrag auf einstweilige Regelung vorbehalten.

Die Antragstellerin verzichtet im Interesse einer zügigen Entscheidung auf eine mündliche Verhandlung.