Benutzer:Michael Ebner/Der Abgeordnete als Proxy der Basis

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Der Abgeordnete als Proxy der Basis

Auf meine Ausführungen zum Thema Klarnamen im Liquid kam von @fRED der Tweet "@MichaelEbnerPP Du meinst also wir sollten den Abgeordneten als Proxy der Basis aufgeben?" Da dafür 140 Zeichen bei weitem nicht ausreichen, möchte ich hier antworten.

Zum Begriff Proxy

Der Begriff Proxy wird für eine Einheit verwendet, die Daten weiterleitet. Von sich aus tut ein Proxy gar nichts. Von der Basis kommt jedoch deutlich zu wenig Input, als dass unsere Abgeordneten als reiner Proxy agieren könnten. Dieses Bild können wir schon gleich mal komplett außen vor lassen.

Die Teilaspekte

Die eigentliche Frage - ich bin mir ziemlich sicher, dass fRED das auch so gemeint hat - ist die, in wieweit die Basis die Abgeordneten mit LiquidFeedback steuern kann. Diese Frage lässt sich in zwei Teilaspekte teilen:

  • Steuerung der Fraktionen durch die Basis
  • Einsatz von LiquidFeedback bei dieser Aufgabe

Steuerung der Frakionen durch die Basis

Vorbemerkung: Ich beziehe mich bei den folgenden Ausführungen primär auf die Fraktion im Abgeordnetenhaus. Damit bezwecke ich keine Herabsetzung der Bezirksverordneten. Der Fokus des Interesses liegt jedoch sowohl innerhalb der Partei als auch in der Öffentlichkeit auf der AGH-Fraktion. An dieser Stelle möchte ich es dann jedoch nicht versäumen, den Bezirksverordneten, die das für erbärmliche Bezahlung neben ihrem Beruf bzw. Studium machen und trotz sehr beschränkter Gestaltungsmöglichkeiten da die Piraten vertreten, meinen Respekt zu zollen.

Zum Thema: Die Tätigkeit eines AGH-Piraten ist de facto ein Vollzeitjob, 40 Stunden die Woche wird dafür eher nicht ausreichen. Damit schafft man es dann so leidlich, in seinen Ausschüssen auf der Höhe der Diskussion zu sein. Der durchschnittliche Basispirat kann neben Job/Studium, Parteiarbeit und Familie im Durchschnitt allenfalls 10% dieser Zeit aufwenden. Es müsste sich zwar jetzt nicht um alle Themen kümmern, sondern könnte sich wie ein Abgeordneter auf einen oder wenige Ausschüsse beschränken, es bleibt aber dann das Verhältnis von etwa 1:10, jetzt mal unterstellt, das Interesse fokusiert sich rein auf Landespolitik, nicht auf Bezirkspolitik, auch nicht auf Bundes- oder Europapolitik, wenn das in den nächsten Jahren mal klappen sollte.

Zusätzlich zum Zeitproblem hat das Basispirat dann noch einen erschwerten Zugang zu den benötigten Informationen, keinen Referenten, den er mal fragen könnte, keinen persönlichen Mitarbeiter, den er Dinge tun lassen könnte.

Kurz: Wenn wir das mit der Basisbeteiligung gut organisieren, dann können die jeweils interessierten Piraten bei vielleicht 10% der zur Debatte stehenden Themen halbwegs "auf Augenhöhe" mitdiskutieren, die restlichen 90% muss der Abgeordnete selbst hinbekommen.

Natürlich ist es toll, wenn Heiko aus einem Squad eine gut formulierte kleine Anfrage bekommt. Da freut sich der Abgeordnete, da freut sich die Basis, da klappt dem Kollegen aus einer anderen Partei die Kinnlade runter. Und vielleicht sollte man bei der Organisation der Basiseinbindung den Fokus auf eben solche Anfragen legen.

Wenn es aber dann um Entscheidungen geht, dann sehe ich das ziemlich skeptisch. Natürlich gibt es die großen Gewissensfragen, Präimplantationsdiagnostik und solches Gedöns, begleitet von einer längeren gesellschaftlichen Debatte. Aber die meisten Sachfragen müssen schnell entschieden werden, sind ziemlich kompliziert, lassen sich aber ohne das nötige Fachwissen nicht brauchbar beantworten. Würden wir wollen, dass "die Basis" entscheidet, wie z.B. ein Kardiologe zu operieren hat?

Ja, in LiquidFeedback gibt es die Möglichkeit, dahingehend zu delegieren, wo man das größte Fachwissen vermutet. Das dürfte im Regelfall der Abgeordnete sein, der im entsprechenden Ausschuss sitzt und sich quasi Vollzeit mit den jeweiligen Fragen beschäftigt, unter Zuarbeitung seines Referenten. LF-Meinungsbilder, in denen die Abgeordneten mit der Masse ihrer erhaltenen Delegationen die Frage selbst entscheiden, als "Steuerung der Fraktion durch die Basis" zu verkaufen halte ich dann für einen Etikettenschwindel.

Einsatz von LiquidFeedback

Damit sind wie schon bei der zweiten Frage, in wieweit LiquidFeedback bei diesem Prozess eine Rolle spielen kann.

Zu langsam

Zu den Schwierigkeiten, die ohnehin schon bestehen, kommt hier noch die Trägheit des basisdemokratischen Prozesses hinzu. Möchte man die anstehenden Fragen nicht per Schnellverfahren "durchprügeln", dann dauert der Prozess mehrere Wochen. Wenn die Tagesordnungspunkte der Plenarsitzungen bei ihrem Bekannwerden zeitnah eingestellt werden, dann ist das Thema zur Plenarsitzung noch nicht mal eingefroren.

Zu ungeklärt

Erschwerend kommt hinzu, dass maßgebliche Fragen der im Raum stehenden Fraktionssteuerung komplett ungeklärt sind. Zum Beispiel die Übertragung des Abstimmungsergebnisses in LF auf das Abstimmverhalten im Parlament. Nehmen wir einmal an, eine Abstimmung geht 67% zu 33% aus. Stimmen dann 10 Abgeordnete dafür und 5 dagegen? Und welche Abgeordneten stimmen wie? Oder möchte man ein "The winner takes it all"-Prinzip, das man ja aus gutem Grund beim Wahlmänner-Wahlverfahren in den USA als ergebnisverzerrend kritisiert?

Wie sollen sich die Abgeordneten verhalten, wenn sie für eine zweitplazierte Initiative (mit über 50% Zustimmung) die Zustimmung anderer Fraktionen und damit eine Realisierung erreichen könnten, für die erstplazierte Initiative aber nicht?

Wie sollen die Abgeordneten verfahren, wenn zwischen Abstimmung in LF und Abstimmung im Parlament maßgebliche weitere Informationen bekannt werden?

Taktischer Nachteil

Besteht ausnahmsweise mal die Konstellation, dass man mit einer LF-Abstimmung der Fraktion einen konkreten Auftrag geben könnte (zeitlich rechtzeitig, inhaltlich klar genug), dann hat die Fraktion dadurch ein erhebliches taktisches Hindernis. Warum sollte die Regierung da Informationen herausgeben, wenn ohnehin klar ist, wie die Piraten abstimmen werden? Welche Chancen haben Kompromisslinien, wenn das Abstimmverhalten ohnehin von der Basis vorgegeben ist?

Ich will diesen Aspekt nun sicher nicht überbewerten, gerade in der derzeitigen Konstellation, als kleinste Oppositionspartei gegen eine große Koalition anzurennen. Aber die Konstellation wird auch mal eine andere sein, und da könnte ein wenig taktische Beweglichkeit darüber entscheiden, ob eine Entscheidung im Sinne der Piraten getroffen wird oder eben nicht.


Was dann?

Die spannende Frage ist somit, wie sich das Ziel einer basisdemokratischen Partei mit der Realität der parlamentarischen Praxis vereinbaren lässt.

Die Basis bestimmt das Ziel, die Fraktion den Weg

Mein erster Punkt wäre dabei eine klare Arbeitsteilung: Die Basis bestimmt die Ziele, hält sich aber komplett bei deren Umsetzung raus und vertraut dort auf die Abgeordneten (oder sie vertraut den Abgeordneten nicht, hält sich aber aus Mangel an besseren Alternativen raus).

Um etwas zu wollen, braucht man in der Regel weder viel Zeit noch viel Fachwissen. Allenfalls ist die Frage der Prioritätensetzung eine Herausforderung. Wie man das dann umsetzt, ist eine viel größere Schwierigkeit. Von daher würde ich die Umsetzung den Abgeordneten überlassen, die sich intensiver mit den Themen beschäftigen, die auf Referenten zurückgreifen können, die den kürzeren Draht zu den anderen Fraktionen haben.

Mehr Argumentation wagen

Solange die Piraten nicht mit absoluter Mehrheit agieren, gibt es nur zwei Wege, eigene Positionen durchzusetzen: die besseren Argumente (ggf. in Kombination mit der öffentlichen Meinung) und/oder der Kompromiss.

Nun ist LiquidFeedback eher darauf ausgelegt, Argumentation zu unterdrücken (das läuft dort unter dem Label "Trollresistenz"), ich hoffe ja immer noch darauf, dass hier entweder einer Weiterentwicklung oder eine Ergänzung durch ein anderes Tool stattfindet und nutze als Notbehelf das Wiki, um wenigstens das eigene Abstimmungsverhalten zu begründen. Mehr Argumentation würde nicht nur dabei helfen, die Abgeodneten mit ausreichend Argumenten zu versorgen. Dort, wo Kompromisse notwendig werden, sind die Abgeordneten ziemlich allein gelassen, wenn sie nur ein Endergebnis kennen, aber nicht die Gründe für das Abstimmungsverhalten. Sie können dann allenfalls erahnen, ob das Nachgeben in einem bestimmten Punkt als akzeptabler oder als fauler Kompromiss betrachtet wird, sie wissen ebenfalls nicht, ob neue Informationen das Abstimmverhalten verändert hätten, oder ob das Gründe betroffen hätte, die ohnehin nicht maßgebend waren.

Mehr Argumentation wäre auch eine enorme Hilfe, um Delegationen anhand von Fachwissen zu verteilen. Die Akkumulation der Delegationen bei den Experten für ein Thema funktioniert nach meiner Beobachtung nur höchst teilweise - aber an was soll man sich auch orientieren?


Stärken und Schwächen der Tools kennen und akzeptieren

Als essentiell scheint mir auch, dass wir die Stärken und Schwächen der eingesetzten Tools - hier vor allem Liquid Feedback - kennen und akzeptieren. Es gibt Dinge, die kann LF richtig gut - z.B. Ideen der Kategorie "gut gemeint, aber in der Umsetzung falsch angegangen" mittels einer besseren Initiative zu kontern. Als Vorfilter für Parteitage halte ich LF für enorm hilfreich - wir werden in #bongs noch darüber fluchen, dass LF auf Bundesebene nicht etabliert genug ist, um dort diese Funktion zu übernehmen.

Aus den dargelegten Gründen halte ich jedoch den Einsatz von LF zur Fraktionssteuerung für nicht sachgemäß - sowohl was das konkrete Tool als auch überhaupt den Gesamtprozess anbelangt. Solange man das eher als Anregungswerkzeug verwendet, erwarte ich keine gravierenden Nachteile. Möchte man jedoch die Fraktion direkt über LF steuern, erwarte ich ein Scheitern unter erheblichen Schmerzen - und "Lernen durch Schmerz" haben wir doch eigentlich für unsere politischen Mitbewerber vorgesehen.