AG Geldordnung und Finanzpolitik/Artikel 123 1 AEUV

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Vorbemerkung Vorbemerkung:
Dies ist eine Meinung, die derzeit von dem Mitglied Cosmic vertreten wird und spiegelt nur die Meinung einiger Mitglieder der Piratenpartei oder der AG Geldordnung und Finanzpolitik wider. Wer Anmerkungen/Fragen hat schreibt diese bitte auf die Diskussionsseite zu diesem Artikel.


Einleitung

Dieser mögliche Antrag steht zur Diskussion. Es handelt sich weder um eine offizielle Position der Piratenpartei noch der AG Geldordnung.

Dieser Antragsvorschlag wurde von Cosmic in die AG eingebracht, und beruht in der hier vorliegenden inhaltlichen Form auf einer Expertise von Prof. Joseph Huber, die von Cosmic bei ihm angefragt wurde.

Die verschiedenen AGs und aktiven Piraten und Piratinnen sind eingeladen sich zu diesem Thema zu informieren und eine Meinung zu bilden.

Auf dieser Grundlage kann ein neuer Antragstext aus der Feder der AG entstehen, sollte sich in der Frage "Änderung 123" ein Konsens in der Arbeitsgruppe herausbilden.

Die weitere Entwicklung der Debatte wird in unserem Blog dokumentiert.

Der Prozess ist das Produkt.

Novellierung Artikel 123 (1) AEUV

Artikel 123 AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Lissabon Vertrag) (ex-Artikel 101 EGV)

(1) Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten (im Folgenden als "nationale Zentralbanken" bezeichnet) für Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken.

(2) Die Bestimmungen des Absatzes 1 gelten nicht für Kreditinstitute in öffentlichem Eigentum; diese werden von der jeweiligen nationalen Zentralbank und der Europäischen Zentralbank, was die Bereitstellung von Zentralbankgeld betrifft, wie private Kreditinstitute behandelt.

Maßnahme

Art. 123(1) soll - entweder gestrichen werden (kursiv) - oder wie folgt modifiziert werden (fett):

(1) Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten (im Folgenden als "nationale Zentralbanken" bezeichnet) für Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind ebenso verboten erlaubt wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken.

Begründung

Mit Art. 123(1) AEUV wurde das Geldregal vom Staat auf die Banken übertragen. Das Geldregal beinhaltet das hergebrachte Hoheitsrecht, die gesetzlichen Zahlungsmittel in Landeswährung zu schöpfen und den dadurch entstehenden Geldschöpfungsgewinn, die Seigniorage, einzustreichen. Das Geldregal ist eine Frage von Verfassungsrang. Es entspricht in seiner Bedeutung dem Steuermonopol, dem Gewaltmonopol u.a. Mit Art. 123(1) hat der Staat sich seiner monetären Souveränität beraubt - eine staatsrechtliche Fehlleistung mit schwerwiegenden finanziellen und ökonomischen Folgen.

Die Zentralbank wurde damit ausschließlich Bank der Banken. Ihr wurde verboten, Bank des Staates zu sein.

Die Zentralbank wird außerdem reduziert auf die Funktion eines Lender of last resort für die Banken.

In der akuten Staatsschuldenkrise hat es sich finanzwirtschaftlich als das größte Problem erwiesen, dass es aufgrund Art. 123(1) keinen Lender of last resort für den Staat gibt. EFSF und ESM sind der Versuch, einen Ersatzbanker of last resort für den Staat zu schaffen, was freilich vom Wohlwollen der Banken und der Anleihemärkte abhängig bleibt.

Im Rahmen des bestehenden Giralgeldregimes der Banken ist die Zentralbank faktisch nicht mehr Issuer of first instance. Die Geldschöpfung wird vollständig von der Giralgeldschöpfung der Banken per Kreditvergabe bestimmt. Was die Banken dafür fraktional noch an Zentralbankgeld benötigen (1% Mindestreserven auf Depositen sowie 2% Bargeld und 6% Zahlungsreserven auf 100 Einheiten Giralgeld), wird von der Zentralbank stets bereitwillig refinanziert.

Giralgeld ist kein gesetzliches Zahlungsmittel, wird jedoch allgemein wie ein solches benutzt.

Von daher wird auch der Löwenanteil der Seigniorage von den Banken vereinnahmt (als Extrazinsmarge auf das Giralgeld). Für die Zentralbank und damit für den Staatshaushalt bleibt nur der kleinere Teil (als Zins auf die Zentralbankkredite an Banken sowie für Erlöse aus der Devisenbewirtschaftung).

Art. 123(1) ist ein Ermächtigungsgesetz für die Banken. Es macht den Staat in einseitiger Weise vom Wohlwollen der Banken und der Anleihemärkte abhängig. Die banking-doktrinäre Begründung lautet, staatliche Geldschöpfung führe zu inflationärem Gelddrucken und sei wirtschaftsschädlich, während die Giralgeldschöpfung der Banken nicht-inflationär und wirtschaftsdienlich sei.

Diese Doktrin ist konfus und unhaltbar. Konfus erstens, weil unterstellt wird, bei staatlicher Geldschöpfung handle es sich um Geldschöpfung nach Belieben der Regierung oder des Parlaments. In Wirklichkeit, wenn schon, handelt es sich um die diskretionäre Geldschöpfung der von Weisungen unabhängigen staatlichen Zentralbank. Konfus zweitens, weil nach heute allgemein vorherrschender Annahme es angeblich doch die Zentralbank ist, die die Geldschöpfung in erster Instanz vollziehe (Ausgabe von Bargeld und Reserven) und sie in zweiter Instanz (Giralgeldschöpfung der Banken) unter Mengenkontrolle habe. Diese Annahme ist jedoch unzutreffend. Im heutigen Giralgeldregime wird die Geldschöpfung faktisch vollständig durch die Initiative der Banken bestimmt, während die Zentralbank den geldpolitischen De-facto-Vorgaben der Banken reaktiv nachkommt.

Zweitens ist die Behauptung unhaltbar, staatliche Geldschöpfung sei inflationär, die Giralgeldschöpfung der Banken nicht-inflationär. 'Gelddrucken' auf Weisung einer Regierung war zwar häufig inflationär, nicht jedoch 'Gelddrucken' unter Kontrolle einer unabhängigen staatlichen Zentralbank, deren Aufgabe darin besteht, Geld- und Währungshüterin zu sein. Zutreffend ist dagegen vor allem, dass die Giralgeldschöpfung der Banken in hohem Maß inflationär ist. Sie verläuft regelmäßig überschießend, das heißt mehrfach über das Wachstumspotenzial der Wirtschaft hinaus. Zum Beispiel betrug im Zeitraum von 1992 bis Einsetzen der Krise 2008 das reale Wirtschaftswachstum 23%, das nominale Wachstum (mit Verbraucherpreisinflation) aber 51%, der von den Banken bestimmte Geldmengenzuwachs von M1 sogar 189%.

Die generell überschießende Giralgeldschöpfung der Banken, allenfalls krisenhalber unterbrochen, bringt permanente Inflation auf unterschiedlich hohem Niveau mit sich – sei es als Inflation der Erzeuger- und Verbraucherpreise, wie insb. in den 1960–70ern, sei es als Asset Inflation und Asset Price Inflation wie massiv seit den 1980ern, das heißt Inflation in Form von spekulativen Mengenblasen von Finanzanlagen wie Anleihen, Aktien, Derivaten, Immobilienanlagen, und einer damit häufig einhergehenden Kurs- bzw Preisinflation dieser Assetklassen. Die Banken finanzieren alle solche Aktivitäten durch Giralgeldkredit oder im Eigengeschäft durch Ankauf mit Giralgeld. Sie betreiben so die zuletzt maßlos gewesene kreditäre Aufhebelung der Finanzmarktspekulation. Dies ist extrem wirtschaftsschädlich, ebenso wie die kriseninduzierten Kreditklemmen es sind. Nicht zuletzt haben die Banken das Giralgeld für die kumulative Staatsverschuldung seit den 1970ern erzeugt. Die Banken haben den Regierungen jederzeit gedankenlos jede gewünschte Menge Geld 'gedruckt'. Denn der Staat besitzt aufgrund seines Steuermonopols den größten Cashflow und gilt den Banken deshalb im Normalfall als denkbar bester Schuldner. Erst als im Zuge der Subprime-Crisis-Kreditklemme der Staat die Banken retten und sich dafür nochmals massiv zusätzlich verschulden musste, haben die Banken eine jähe Kehrtwende ihrer kopflosen Geldschöpfungspolitik für Staatsanleihen vollzogen – mit der Folge, dass hoch verschuldete Staaten nun kaum noch Bankenkredit bekommen, und nur zu extrem hohen Zinsen.

Modernes Geld ist seit definitiver Ablösung von irgendeinem Gold- oder Warenkorb-Standard in jedem Fall frei 'aus dem Nichts' geschöpftes Geld. Geld muss von jemandem 'gedruckt' werden, sonst wäre es nicht vorhanden. Die Frage ist nur: Wem steht das Recht zu, Geld zu schöpfen und die sich daraus ergebende Seigniorage einzustreichen? Wer hat dies unter Kontrolle und nach welchen Zielvorgaben zu verantworten? Wer haftet, wenn etwas schief läuft?

Die heutigen Antworten sind die: Das Geldregal steht eigentlich dem Staat zu, aber die Banken haben es per Giralgeldregime usurpiert und dies durch Art. 123(1) AEUV obendrein noch legalisiert bekommen. Der Löwenanteil des Geldschöpfungsgewinns fließt dementsprechend an die Banken. Unter Kontrolle behalten und verantwortet werden sollte die Geldmengenentwicklung eigentlich von der Zentralbank. Aber unter den gegebenen Bedingungen des fraktionalen Reservebanking kann sie dies nicht. Unter Kontrolle hat die Geldmengenentwicklung faktisch niemand. Zur Verantwortung gezogen wird ebenfalls niemand. Die Geldmengen ergeben sich als 'schicksalhafte' Resultante aus dem individuellen Geschäftsgebaren der Banken. Eine gesamtwirtschaftliche oder womöglich gemeinwohlbezogene Vorgabe existiert nicht, nur das Gewinninteresse der Banken und Finanzmärkte. Die unsichtbare Hand des Marktes regelt in diesem Fall nichts, da die Giralgeldschöpfung prinzipiell unbegrenzt erfolgen kann. Deshalb bilden sich hier keine stabilen Mengen- und Preisgleichgewichte und die Märkte erkennen keine Grenzen. Die Sache regelt sich vielmehr wildwüchsig durch schwere Banken-, Finanz- und Währungskrisen auf wandernden Hot Spots rund um den Globus. Haften müssten dafür eigentlich die Banken, aber de facto haftet für das Geld und die Banken im systemischen Zusammenhang der Staat.

Grundlegende Voraussetzung einer Korrektur der genannten Fehlfunktionen ist die Novellierung des Art. 123(1) AEUV und der entsprechenden nationalen Gesetze. Die Novellierung ist unabdingbar, um den Verlust der monetären Souveränität des Staates und seine damit verbundene einseitige Abhängigkeit von den Banken zu korrigieren.

Wenn der Staat das Geld systemisch garantiert und für monetär bedingte Verluste generell haftet, dann muss auch eine unabhängige monetäre Staatsinstanz die effektive Mengenkontrolle über das Geld zurück erlangen. Im besonderen ist der absurde Sachverhalt nicht länger hinnehmbar, dass der Staat Banken retten muss, sich dazu aber bei den Banken verschulden muss. Ein direkter Beitrag der Zentralbank zur Finanzierung öffentlicher Haushalte muss möglich sein, sowohl in Form von Kassenkredit und Investitionskredit als auch in Form der direkten Annahme staatlicher Schuldverschreibungen, im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben, insb. der gesetzlichen Schuldenbremsen. Dies schließt eine Plazierung von Staatsanleihen durch Banken in bisheriger Weise nicht aus. Jedoch wird die Zentralbank wieder in besser ausgewogener Weise Bank des Staates sein können, nicht nur einseitig Bank der Banken, und sie wird dabei auch zu einem Lender of last resort für den Staat, was gerade in Krisenzeiten unabdigbar ist – zumal in Krisen, für deren Zustandekommen die Banken in hohem Maße Schuld oder Mitschuld tragen.